Mittwoch, 8. November 2017

Digitaler Kapitalismus in Berlin

Anmerkungen zu einem Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung
Digitalisierung ist eines dieser, nur allzu häufig im politischen Sprachgebrauch anzutreffenden Zauberworte, die an der Oberfläche technischen, ökonomischen und auch gesellschaftlichen Fortschritt suggerieren, von denen gleichwohl nicht wirklich verständlich gemacht werden kann, was sie denn eigentlich bedeuten. Im Kontext der Digitalisierung ist dann gern auch die Rede von der Vierten Industriellen Revolution, hierzulande als Industrie 4.0 propagiert u.a. von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und deren Vorsitzenden, dem ehemaligen SAP-Chef Henning Kagermann.
Mit diesem schillernden Begriff der Digitalisierung in seiner institutionalisierten Gestalt als Digitaler Kapitalismus befasste sich am 2. und 3. November ein Kongress der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin, an dem teilzunehmen ich die Gelegenheit hatte. Die Veranstaltung stand unter dem Titel „Digitaler Kapitalismus – Revolution oder Hype?“ Das zugehörige Programm und ein Live-Blog findet man im Netz unter http://www.fes.de/de/digitalcapitalism/. Entgegen meiner Erwartung wurden weder Digitalisierung noch Digitaler Kapitalismus als Begriffe substanziell thematisiert, statt dessen gingen die Veranstalter wohl von einem generellen Verständnis der Teilnehmer dessen aus, was darunter zu verstehen sei, und das war, so mein Eindruck vom Kongress, vor allem die Plattformökonomie der Big Four der Internetwirtschaft Google, Apple, Facebook und Amazon sowie der disruptiven App-basierten Geschäftsmodelle von Unternehmen wie AirBnB und Uber. Weitere technische Ausprägungen der Digitalisierung, wie die erwähnte Industrie 4.0, Robotisierung, Künstliche Intelligenz (KI), das Internet der Dinge (IoT) oder die anlaufende, umfassende „Internetisierung“ der Versorgungsinfrastrukturen (Smart Grid, Smart City) kamen hingegen kaum zur Sprache. Das mag daran gelegen haben, dass der Fokus des Kongresses eben nicht auf die technologischen Aspekte des digitalen Kapitalismus gelegt wurde, sondern auf die ökonomischen und sozialen Folgen der Digitalisierung und die Fragen nach den geeigneten gesellschaftlichen Reaktionen darauf. Dementsprechend heißt es auch im Programmheft:
Die Digitalisierung durchdringt immer mehr Bereiche unserer Wirtschaft.
  • Aber erlebt der Kapitalismus wirklich eine Revolution?
  • Oder bekommt er nur einen neuen Anstrich?
  • Bedeutet der digitale Wandel Wohlstand und Teilhabe für alle oder Ungleichheit und soziale Verwerfungen?
  • Was muss die Politik tun, um den digitalen Kapitalismus so zu gestalten, dass er sozialen Fortschritt bringt?“
So setzte sich denn, den Wortmeldungen nach zu urteilen, die mehrere hundert Personen umfassende Teilnehmerschaft vornehmlich aus Vertretern von Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Interessenverbänden sowie der sozial- und wirtschaftswissenschaftlich orientierten akademischen Disziplinen zusammen.
Bevor ich indes auf die einzelnen Themen des Kongresses eingehen werde, wobei ich mich naturgemäß auf die Fokus-Sessions und die zwei Foren beschränken muss, die ich selbst besucht habe, möchte ich zunächst Gedanken zu den Begrifflichkeiten Digitalisierung und Digitaler Kapitalismus anbringen. Was aktuell Digitalisierung genannt wird, lässt sich m.E. als Phase eines bereits mehrere Jahrzehnte andauernden Prozesses des sukzessiven Eindringens informationsverarbeitender Techniken in Produktions-, Distributions- und Kommunikationssysteme verstehen. Für mich, der seit mehr als 30 Jahren aktiver Teil dieses Prozesses ist, ist daran zunächst wenig Revolutionäres zu erkennen. Das Charakteristische der gegenwärtigen Phase besteht jedoch u.a. darin, dass, anders als in den vorangegangenen Phasen, die Globalisierung zu einer weltweiten Gleichzeitigkeit der Entwicklung und Nutzung der Digitaltechnologien geführt hat. Die technischen Voraussetzungen dafür sind das Internet und der Mobilfunk, die politisch-ökonomischen Voraussetzungen sind der Zusammenbruch der Sowjetunion und die darauf folgende Ausbreitung des neoliberalen Kapitalismus bis in die letzten Winkel des Planeten. Weiterhin charakteristisch, wirklich neu und möglicherweise auch revolutionär am digitalen Kapitalismus sind die darauf aufbauenden Geschäftsmodelle der Plattformökonomie mit der ihnen immanenten Tendenz zur Monopolbildung. Als tiefer liegende ökonomische Ursache der Digitalisierung identifiziert der Soziologe Philipp Staab das von ihm so genannte „Konsumtionsproblem“. In seiner 2016 erschienen kritischen Studie „Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus“ argumentiert Staab,
dass der digitale Kapitalismus eine verhältnismäßig neue Antwort auf ein Problem darstellt, das den Kapitalismus seit dem Ende des Nachkriegsaufschwungs in der Mitte des 20. Jahrhunderts prägt: Die Schwäche der Nachfrage, die mit den Produktivitätsfortschritten nicht standhalten kann. Die rückblickend recht kurze Phase der Nachkriegsprosperität … war gekennzeichnet durch die erfolgreiche Kombination von Massenproduktion und Massenkonsum. Dieses Doppelgespann wirtschaftlicher Dynamik, allgemein als Fordismus bezeichnet, geriet allerdings schon Ende der 1960er Jahre zunehmend aus dem Tritt, weil die Nachfrage nicht mehr mit der Entwicklung der Produktivität Schritt halten konnte. Das vorherrschende Produktionsmodell erzeugte … nicht mehr aus sich heraus jene Nachfrage, die zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Wachstumsraten der unmittelbaren Nachkriegszeit vonnöten gewesen wäre.“1
Aus sozialökonomischer und demokratietheoretischer Sicht besteht die vom digitalen Kapitalismus ausgehende Gefährdung offensichtlich in eben jener Plattformökonomie, die aufgrund ihrer Tendenz zur globalen Monopolbildung die Beschäftigten, die Konsumenten wie auch die Produzenten in extreme Abhängigkeitsverhältnisse zwingen kann und wird. Aufgrund fehlender oder mangelhafter internationaler Regulierungen des Internet können Plattformunternehmen weitgehend unbehelligt Geschäftsgebaren an den Tag legen, die eher an Organisierte Kriminalität als an den Ehrbaren Kaufmann von einst erinnern. Gemeint sind damit nicht nur Steuervermeidung, -hinterziehung und Geldwäsche (Bitcoin), sondern auch Verträge mit Ausschließlichkeitsklauseln, die an Schutzgelderpressung denken lassen (etwa bei Lieferdiensten), systematische Datenhehlerei, Urheberrechtsverletzungen u.d.g.m., zu schweigen von den Arbeitsbedingungen prekärer Beschäftigter oder freier Mitarbeiter (Uber, Mechanical Turk von Amazon). War es 1984 noch möglich, den monopolistischen Telefonriesen AT&T in einem US-Kartellverfahren zu zerschlagen, so scheiterte dies 15 Jahre später bei Microsoft. Unter den heutigen Bedingungen scheint es nahezu undenkbar, dass Kartellbehörden sich ernsthaft mit Apple, Facebook oder Amazon befassen, auch wenn so etwas gelegentlich kolportiert wird; statt dessen lässt man es zu, dass die Plattformunternehmen mit ihrer enormen finanziellen Macht weitere Geschäftszweige hinzu kaufen und damit ihre Monopole weiter ausbauen. Damit geht von diesen Monopolisten eine Gefahr nicht nur für uns Beschäftigte oder Verbraucher aus, vielmehr wird das gesamte kapitalistische Wirtschaftsmodell in Gänze disruptiv unter Beschuss genommen, was bei einigen Akteuren und Analytikern die Erwartung weckt, dass so das „Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ (Elmar Altvater) eingeläutet, mithin der Übergang zum Postkapitalismus eingeleitet werden könnte.
Einige der genannten Aspekte wurden auf dem Kongress der FES von den eingeladenen Keynote-Speakern Frank Pasquale (USA, Rechtswissenschaftler), Evgeny Morozov (USA, Aktivist) und Paul Mason (UK, Journalist) thematisiert. An den Vorträgen und Diskussionen in den thematischen Foren zeigte sich allerdings, dass der hiesige Diskurs längst noch nicht auf der Höhe der bereits geschaffenen Tatsachen ist. So reduziert sich die Problematik für die noch amtierende Bundesministerin Andrea Nahles auf Datenschutz und Mindestlohn, und Joachim Bühler, bis vor kurzem noch Bitkom-Geschäftsführer, insistierte bspw. immer wieder auf „Software, Software, Software!“, ohne dass man den Eindruck gewinnen konnte, er verstehe, wovon er spricht, oder erkenne gar den systemischen Zusammenhang zwischen Software und Geschäftsmodell.
Auf Anraten meiner Lebenspartnerin besuchte ich das Forum zum Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE), das sich indes als wenig ergiebig herausstellte. Ronald Blaschke (Die Linke) vom Netzwerk Grundeinkommen, Benjamin Mikfeld (SPD) und Silke Bothfeld (Hochschule Bremen) tauschten lediglich die einschlägig bekannten Argumente pro und contra BGE aus, so dass hier eher eine Auseinandersetzung zwischen Linker und SPD zu beobachten war, als beider mit den realen Herausforderungen des digitalen Kapitalismus, die m.E. in nicht allzu ferner Zukunft die Notwendigkeit eines BGE begründen werden. Keinem der Disputanten kam in den Sinn, dass die Ausweitung der digitalkapitalistischen Beschäftigungsverhältnisse den Staat zu einer BGE-ähnlichen Leistung zwingen wird, weil andernfalls die betreffenden Unternehmen schlicht das Geschäft einstellen oder abwandern werden. Bei der Abwägung zwischen Sozialpolitik und Standortpolitik hat auch hierzulande stets noch die Standortpolitik den Vorrang. Ich jedenfalls glaube, dass es zu einem branchenbezogenen BGE kommen wird, ähnlich dem branchenbezogenen Mindestlohn, weil ansonsten bestimmte benötigte Leistungen von den Plattformunternehmen nicht mehr erbracht werden würden. Die Diskussion um das solidarische Grundeinkommen, die Berlins Bürgermeister Michael Müller kürzlich angestoßen hat, kann man wohl als ein Indiz dafür ansehen.
Hochinteressant war das Forum „Marx Reloaded“, in dem aus Anlass des 150 Jahrestags des Erscheinens des ersten Bandes von Karl Marx´ „Das Kapital“ nach der Aktualität und der Geltung der marxschen Analysen für den Digitalen Kapitalismus gefragt wurde. Die vom Politökonomen Michael Krätke präsentierten Einschätzungen bestätigen im Wesentlichen die Kernaussagen des „Kapitals“.

Michael Krätke im Forum "Marx Reloaded"

Gleichwohl versuchte Krätke einige Korrekturen marxscher Fehleinschätzungen der Entwicklung des Kapitalismus anzubringen und bewegte sich damit im Fahrwasser der Analysen, die Anfang dieses Jahres von
Mathias Greffrath & Co. (u.a. Paul Mason, Sahra Wagenknecht) in einer Essay-Reihe des Deutschlandfunks sowie im Sammelband „RE: Das Kapital: Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ vorgelegt wurden. Die anschließende Diskussion mit Uwe Kremer von der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft (spw) war hingegen wenig ergiebig, weil sie sich in eher akademischen Detailfragen, wie der Bedeutung des so genannten „Maschinenfragmentsaus Marxens „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“ für die Bewertung der gegenwärtigen Entwicklungstendenzen des Digitalkapitalismus verzettelte. Mit der beiläufigen Bemerkung, dass in den entwickelten westlichen Volkswirtschaften lediglich 2% der Beschäftigten im IKT-Sektor arbeiten, gelang es Krätke hingegen, die quantitative Dimension des Kongress-Themas etwas zurecht zu rücken.
Andererseits erwies sich die Diskussion um das „Maschinenfragment“ und seine Bedeutung für die Beurteilung der Idee, ob sich die kapitalistische Produktionsweise mittels umfassender (digitaler) Automatisierung dereinst selbst abschaffen könnte, als gute Überleitung zum Abschlusspanel mit Paul Mason und seinen Thesen zum Postkapitalismus resp. zur Rolle der Sozialdemokratie.
Im besten Fall war der Kongress „Digitaler Kapitalismus“ der Beginn eines notwendigen breiten Diskurses innerhalb des linken politischen Spektrums über den Umgang mit den Segnungen der Digitalisierung (bspw. hier). Nach meinem Eindruck steckt man dabei noch tief in der analytischen Phase, und die Befürchtungen gerade auch von gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Seite überwiegen. Eine schlüssige politische Strategie ist noch nicht erkennbar, sind doch die maßgeblichen Akteure, die linken Parteien und die Gewerkschaften, noch stark dem traditionellen Erwerbsarbeitsmodell verpflichtet. Der Versuch, dem digitalen Kapitalismus dieses aufzuzwingen, wird nach meiner Meinung keinen Erfolg haben. Ebenso wenig werden die Forderungen nach stärkeren Regulierungen der Digitalwirtschaft Wirkung zeigen, es sei denn, man würde sich zu wirklich radikalen Maßnahmen (Verstaatlichung, Zerschlagung etc.) durchringen, womit dann allerdings der seit den 1980er Jahren verfolgte wirtschaftsliberale Politikkurs aufgegeben werden müsste, was angesichts der laufenden Jamaika-Verhandlungen höchst unwahrscheinlich ist.
1 Philipp Staab. Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus. Hamburg 2016, S. 12f

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