Mittwoch, 29. Februar 2012

Wolle am Morgen

Das Bundesverfassungsgericht hat gestern entschieden, dass das Son­dergremium des Bundestags zur parlamentarischen Kontrolle des Eu­ro-Rettungsschirms EFSF größtenteils gegen die Verfassung verstößt. In ei­nem heute morgen ausgestrahlten Interview des Deutschlandfunk mit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse zog dieser daraus u.a. den Schluss, dass sich angesichts der zunehmenden Geschwindigkeit ökono­mischer Prozesse, die demokratischen Institutionen dahingehend verän­dern müssten, mit dieser Beschleunigung Schritt zu halten, weil sonst, nach Meinung Thierses, die Demokratie insgesamt gefährdet wäre. Zitat:
„Wir erleben ja etwas durchaus hoch Problematisches, was auch für die Demokratie insgesamt gefährlich ist: nämlich die Dominanz, die Vorherrschaft der Finanzmärkte, der Ökonomie. Und gelegentlich entsteht der Eindruck, dass Politik, demokratische Politik, die ihrer inneren Natur nach immer langsam ist, weil sie eben schwierige Entscheidungsprozesse gestalten muss, möglichst viele sich daran beteiligen sollen, wir erleben, dass die Politik hinterherhinkt, schmerzlindernde Mittel, Trostpflaster verteilen kann. Das ist eine Problematik, die ich für dramatisch halte für unsere Demokratie und die ja auch dazu führt, dass immer mehr Menschen kritisch gegenüber der Demokratie stehen. Ich glaube, man muss das schon beschreiben als eine Demokratiekrise, die zunehmende Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Begrenztheit und Langsamkeit, notwendigen Langsamkeit demokratisch-politischer Prozesse und Entscheidungen andererseits, und auf diese Diskrepanz haben wir noch nicht die angemessenen institutionellen Antworten. Die Richtung, in der wir Politik, ihre Institutionen reformieren müssen, damit sie wieder in die Nähe des Tempos und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen kommt, die Richtung heißt Europa, Demokratisierung europäischer Entscheidungen, und da müssen die nationalen Parlamente mitwirken und da müssen vielleicht die nationalen Parlamente sogar auch Europa treiben.“[1]
Einmal kurz durchatmen. Während also weltweit Hunderttausende auf die Straßen gehen bzw. dies zum Frühjahr wieder planen, um die Politik zu bewegen, ihren Primat gegen die reale wie gefühlte Macht der global agierenden finzanzökonomischen Player durchzusetzen, plädiert der Sozialdemokrat und Katholik Wolle Thierse dafür, dass sich die Politik dem Tempodiktat dieser Player, wenn nicht unterwirft, so doch wenigstens anpasst. Während sich also in Griechenland Regierung und Parteien unter dem Druck des Finanzkapitals und seiner unter dem Label „Troika“ agierenden Exekutoren notgedrungen von aktiver Politikgestaltung verabschieden müssen, meint der ehemalige Revolutionär und Bürgerrechtler Wolle Thierse, die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik sollten dahingehend reformiert werden, dass sie Entscheidungen ebenso schnell und hektisch treffen könnten, wie die Akteure an den internationalen Märkten.
Nun hat seit 2008 nicht nur die Politik oft vollmundig davon gesprochen, dass es darum ginge, die Macht der Finanzmärkte einzuschränken. Dem Casino-Kapitalismus wurde gar der Krieg erklärt. Doch wie wir wissen, ist bis heute nichts dergleichen geschehen. Stattdessen klagt Politik in Person des Bundestagsvizepräsidenten immer noch über „die Dominanz, die Vorherrschaft der Finanzmärkte, der Ökonomie“.  Und das, wo doch selbst Thierses oberster Kirchenvorstand bereits Vorschläge für eine neue Weltfinanzordnung publiziert hat.[2] Thierses Rezept: Verlagerung der Entscheidungsprozesse nach Europa, wo sie angeblich schneller verlaufen könnten, natürlich, natürlich unter Voraussetzung ihrer Demokratisierung. Es wäre ja durchaus interessant zu erfahren, wie er sich das vorstellt. Vielleicht sollte er einfach mal mit seinem ehemaligen Mitrevolutionär und nun freiheitsliebenden Bundepräsidentenkandidaten Joachim Gauck reden, der hat da sicher ganz konkrete Vorstellungen. Dann braucht es auch weder Attac noch Occupy, und Wolfgang Thierse müsste am frühen Morgen nicht solche unausgegorenen öffentlichen Statements abgeben.


[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1689544/
[2] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vatikan-kritisiert-macht-der-finanzmaerkte-gott-gegen-das-system-1.1172246

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