Nicht nur mit dem Sein,
auch mit den Werten ist es nichts.
(Friedrich Nietzsche)
auch mit den Werten ist es nichts.
(Friedrich Nietzsche)
Für manche beginnt die Ideengeschichte der Postmoderne als
großangelegter Kritik der Moderne bereits mit Nietzsches Umwertung aller
Werte. Die heilige Wertedreifaltigkeit der Moderne bildeten Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit, die drei großen Versprechen der Französischen
Revolution, nicht eingelöst bis heute und wohl auf Ewigkeit dem Reich der
Wünsche zugehörig. Der Freiheitsbegriff der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines
eigenen Verstandes zu bedienen!“, wurde praktisch herunter gekocht auf die
Entscheidungsfreiheit der Konsumenten, wie Bauman in seinen Betrachtungen zur
Postmoderne sarkastisch anmerkt. Seine Feststellung trifft sich mit neueren Zeitgeistdiagnosen, wonach es im
globalen Maßstab faktisch nur noch zwei relevante Religionen bzw. ethische
Systeme gibt: Den Kapitalismus und den Konsumismus. Beide Religionen verehren
das Geld als oberste Gottheit. Das oberste Gebot der Kapitalisten lautet: „Du
sollst investieren!“, und das oberste Gebot für den Rest der Menschheit lautet:
„Du sollst kaufen!“ Das Ziel der Gleichheit aber ist der Akzeptanz der Verschiedenheit
gewichen, wohingegen das eigentlich christliche Gebot der Brüderlichkeit durch
das der allumfassenden Toleranz ersetzt wurde.
Als Werte gehören Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
insofern der Moderne an, als sie lediglich im je eigenen Nationalstaat geltend
gemacht werden, und der Fremde nur über den mühsamen Weg der
Assimilation Teilhabe an diesen Werten beanspruchen kann. Daran hat auch die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte nichts geändert. Im Kontext der Postmoderne
tritt an die Stelle des Nationalstaates der Markt, und das ist für uns die
Europäische Union. Der Markt sorgt für die Durchsetzung von Freiheit,
Verschiedenheit und Toleranz in marktkonformer
Interpretation. Von der marktkonformen Freiheit zu konsumieren war oben schon
die Rede. Zur Verschiedenheit schreibt Bauman: „Die Verschiedenheit gedeiht;
und der Markt gedeiht mit. Genauer, nur solche Verschiedenheit darf gedeihen,
die dem Markt nützt.“ Wenn die Wirtschaft meint, aus der
Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU einen Nutzen ziehen zu können, dann stellen
ethnische, kulturelle oder lebensweltliche Verschiedenheit der auf Arbeitssuche
über den Kontinent marodierenden Fremden nicht mehr, wie noch vor ein paar
Jahrzehnten, ein politisches Problem dar, statt dessen wird ihre
Verschiedenheit ins Positive, ja Begrüßenswerte gekehrt und zur mindestens
kulturellen Bereicherung umgedeutet. Gleiches gilt sinngemäß für den Wert der
Toleranz, der vom Markt maximal in der Ausprägung als Indifferenz, mithin als Desinteresse
befördert wird. „Mit anderen Worten, die vom Markt geförderte Toleranz führt
nicht zur Solidarität: sie fragmentiert, statt zu vereinen. Sie dient der
Aufsplitterung der Gemeinschaft und der Reduzierung des gesellschaftlichen
Bandes auf einen Schimmer an der Oberfläche.“ Es ist dies die Form von Toleranz, die zur Etablierung so genannter
Parallelgesellschaften führt, die mit Bezug auf Migranten gern von Konservativen
thematisiert werden, und die aus politisch entgegengesetzter Richtung kürzlich
von Carlo
Strenger massiv kritisiert wurde.
Vor diesem Hintergrund scheint es durchaus plausibel, dass die
gleichen Leute, die auf Rednerbühnen und in Internetforen gegen die Fremden
polemisieren, auch die herrschende Marktgesellschaft in ihrer EU- und besonders
eurozonalen Ausprägung samt zugehöriger Politik- und Wirtschaftselite ins
Visier ihrer teils ebenso polemischen Kritik nehmen, die Abkehr von den
marktkonformen Werten einfordern und die Rückbesinnung auf
christlich-abendländische Werte propagieren. Mit der Berufung auf Werte stehen
sie nicht allein da. Auf Werte berufen sich gegenwärtig mehr oder weniger alle
Politiker, die in der
Flüchtlingsdebatte das Wort erheben, ausgenommen die Linke und Teile der Grünen. Weil Europa eine Wertegemeinschaft
darstelle, könne hier nur leben, wer diese Werte respektiere, also schlicht
übernähme. Aber was ist mit den Werten und dem vermeintlichen Wertekanon
eigentlich gemeint?
Exkurs 3:
Das Gerede von den Werten
In den
letzten Jahren hat sich vor allem im deutschen Sprachraum eine umfangreiche Wertedebatte
entwickelt. Da ist vom Wertewandel, Werteverlust, Wertemangel und von der
wichtigen Aufgabe der Wertevermittlung die Rede. Sieht man genauer hin, so ist
mit den Werten natürlich nichts Materielles gemeint, und auch nicht das, wonach
jedermann ohnehin strebt. Es soll sich dabei um etwas „Höheres“ handeln, das
uns angeblich zu irgendetwas verpflichtet, das aber bedroht oder sogar ganz
verloren gegangen sei, sodass man es gerade heute wieder in Erinnerung rufen
und einfordern müsse. Werte werden im Diskurs interessanterweise dann bemüht,
wenn die politischen Argumente ausgereizt sind und höhere moralische Mächte
gleichsam rettend eingreifen sollen. Wenn nichts mehr hilft, hilft die Berufung
auf unsere Werte. Die Werterhetoriker sind meist in politisch eher
konservativen Kreisen anzutreffen.
Das Online-Wörterbuch
der Philosophie hält folgende, etwas
sperrige Definition des Wertebegriffs parat: „Mit dem Sammel- und
Einheitsbegriff ›Wert(e)‹ werden im Allgemeinen grundlegende, konsensuelle
Zustimmung einfordernde, gleichermaßen normierend und motivierend wirkende
Zielvorstellungen, Orientierungsgrößen und Qualitäten bezeichnet, die – weil
sie sich mit Bezug auf anthropologische Grundkonstanten als unabdingbar oder
mit Blick auf kontingent (historisch, situativ, kulturell) bedingte Bedürfnis-
und Handlungskontexte als zuträglich erwiesen haben – auch tatsächlich
angestrebt und gewünscht werden, sodass sich Individuen und Gruppen von ihnen
bei ihrer Handlungswahl und ihrer Weltgestaltung leiten lassen.“ Im weitesten Sinne sind
Werte also unser Handeln motivierende Vorstellungen oder unser Handeln
bestimmende normative Vorgaben. Früher wurden diese Tugenden genannt und
jene Güter. Beide Begriffe sind aus der Alltagssprache wie aus dem
öffentlichen Diskurs größtenteils verschwunden: Wer von Tugend spricht, gilt
als Moralist, wer von Gütern spricht als Materialist. Dafür ist ein geradezu
inflationärer Gebrauch des Wertebegriffs zu verzeichnen: soziale Werte,
demokratische Werte, westliche Werte, abendländische Werte, traditionelle
Werte, Familienwerte,
Lebenswerte, negative Werte, und der Begriff selbst ist in seiner Verwendung
einigermaßen schwammig geworden. Die Rückkehr zu den Begriffen Gut und Tugend
könnte wohl einiges zur Klärung der Motive und Hintergründe der jeweiligen
Wertedebatten beitragen.
Ein Gut ist
ein Objekt oder eine Eigenschaft eines Objektes, die wir aufgrund eigener Überzeugungen
positiv bewerten und deshalb für erstrebenswert halten. Zu solcherart Gütern
gehören bspw. Leben, Gesundheit, Freiheit, Frieden. Eine Tugend ist eine
Haltung bzw. Charaktereigenschaft einer Person, die wir positiv bewerten und
deshalb als gerechtfertigte Handlungsmotivation bevorzugen. Dazu gehören bspw.
Gerechtigkeit, Treue, Geduld, Toleranz. Kurz gesagt: Güter sind das, wonach wir
streben, Tugenden das, womit wir streben. Weder Tugenden noch Güter sind selbst
Werte, und das macht das Gerede von den Werten ja so leidvoll, sondern ihnen
werden jeweils Werte beigemessen. Dabei kann der Wert eines Gutes individuell
durchaus sehr unterschiedlich ausfallen. Das Gut Frieden wird von einem
Waffenhändler sicher anders bewertet als von einer Schwangeren, und, wie die
Diskussion um aktive Sterbehilfe zeigt, kann das Gut Leben, das die meisten von
uns sicher höher bewerten als das Gut Freiheit, zum Ende hin an Wert soweit
verlieren, dass das Streben nach Freiheit im Sterbeprozess die Oberhand
gewinnt. Tugenden hingegen scheinen in ihrer positiven Bewertung
anthropologisch konstanter zu sein. Treue bspw. gilt gemeinhin als Tugend
unabhängig davon, ob sie dem Ehepartner oder dem Mafiaboss entgegen gebracht
wird. Bisweilen können ursprünglich individuelle Tugenden auf
gesellschaftlicher Ebene zu erstrebenswerten Gütern werden wie bspw.
Gerechtigkeit oder Toleranz.
Diese kurze
Betrachtung soll verdeutlichen, dass beim Gerede von den Werten höchste Vorsicht
geboten und stets zu hinterfragen ist, was der aktuelle Werterhetoriker denn
eigentlich meint und, wichtiger noch, innerhalb welcher privaten oder
politischen Agenda er (oder sie) sich bewegt. Denn meist, so lautet meine
Diagnose, ist nicht von Gütern oder Tugenden, nicht von Werten im Sinne
handlungsleitender Vorstellungen oder Motive die Rede, sondern von Normen.
Sagt ein Politiker dieser Tage, die Zugewanderten hätten sich an unsere
Werte zu halten, dann meint er im besten Fall, dass unsere
gesellschaftlichen Normen Geltung für alle hier lebenden Menschen beanspruchen.
Normen aber werden gesetzt, zumal im Rechtsstaat, und es ist längst nicht
ausgemacht, dass sie mit allgemein akzeptierten Werten übereinstimmen.
Steuerzahlung ist eine Norm, ob aber Steuergerechtigkeit ein Gut und Steuerehrlichkeit
eine Tugend sind, wäre zu diskutieren. Dass Werte einen handlungsleitenden
normativen Charakter haben und somit Normen in dem Sinne begründen können, dass
die Norm das mehrheitlich Wünschenswerte repräsentieren sollte, macht sie aber
nicht selbst zu Normen. Im Unterschied zu diesen werden Werte nicht gesetzt,
sie können nicht verordnet werden. Wenn sie zu Normen werden, dann, weil sie
als Handlungsmaximen von der überwältigenden Mehrheit als Normalität
akzeptiert und gelebt werden.
Von den
Werterhetorikern wird behauptet, wir hätten eine wertebasierte Ordnung, eine Werteordnung.
Gemeint aber ist, sofern es um die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens
geht, eine normenbasierte, und das heißt schlicht Rechtsordnung. Über dieses Wertegerede
hat Carl Schmitt in
seiner Schrift „Tyrannei der Werte“ von 1967 das ultimative Urteil gefällt:
„Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugenden übt man aus;
Befehle werden vollzogen; aber Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre
Geltung behauptet, muss sie geltend machen. Wer sagt, dass sie gelten, ohne
dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“
Mit der dieser Tage inflationierenden Werterhetorik gegenüber den
Fremden werden lediglich Nebelkerzen geworfen. Man sollte jedoch unterscheiden zwischen dem
sich auf die europäische Wertegemeinschaft berufenden Politiker, der, weil ihm
die positive Rechtsstaatlichkeit von Berufs wegen in den Knochen steckt, wohl
nichts anderes meinen kann, als die normative Ordnung der EU, ausgedrückt nicht in
den Verträgen und Richtlinien, sondern vor allem in den Urteilen der
europäischen Gerichte (EUGH, EGMR), und dem Pegidisten oder AfDler, der sich
auf hier vermeintlich geltende Werte beruft und dem Fremden apodiktisch
unterstellt, diese nicht zu teilen. Welche Werte aber meint er? Welche
Werte, die wir als verbindlich und i.d.R. als universell gültig ansehen,
könnten vom Fremden nicht geteilt werden? Welche Werte sind denn überhaupt
grundlegend und unabdingbar für unser zivilisiertes und friedliches Zusammenleben?
Um Klarheit zu gewinnen, hilft vielleicht, eine Liste mit Gütern und eine mit
Tugenden aufzumachen, die man für lebensnotwendig oder doch zumindest
für bedeutsam hält, und dann sich selbst zu befragen, welche der Listeneinträge man den
Fremden per se absprechen würde.
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