Mittwoch, 18. November 2015

Fremd sein - Zygmunt Bauman revisited. Teil 3

Nicht nur mit dem Sein,
auch mit den Werten ist es nichts.
(Friedrich Nietzsche)

Baumans Studie trägt den Titel „Moderne und Ambivalenz“. Nach Ansicht einiger Politikwissenschaftler, Soziologen und Philosophen leben wir inzwischen jedoch in der Postmoderne, zu deren Kennzeichnungen das Aushalten eben jener Ambivalenz, jener Uneindeutigkeit gehört, die die Moderne noch so vehement bekämpft hat. Ich bin mir nicht sicher, ob das zutrifft, und wenn, dann sicher nur für den Westen. Gerade angesichts der aktuellen europäischen Flüchtlingsproblematik wie des Umgangs mit dem islamistischen Terrorismus scheint sich sowohl in der Politik als auch (und dort vor allem) in großen Teilen der Bevölkerung ein starkes Bedürfnis nach Eindeutigkeit, nach einer erkennbaren Ordnung der Dinge und klaren Zuordnung der Protagonisten zu artikulieren. Ich selbst habe mich kürzlich bei dem Gedanken ertappt, wie schön ruhig und geordnet, wie eindeutig es doch in den Zeiten des Kalten Kriegs zugegangen ist.
Für manche beginnt die Ideengeschichte der Postmoderne als großangelegter Kritik der Moderne bereits mit Nietzsches Umwertung aller Werte. Die heilige Wertedreifaltigkeit der Moderne bildeten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die drei großen Versprechen der Französischen Revolution, nicht eingelöst bis heute und wohl auf Ewigkeit dem Reich der Wünsche zugehörig. Der Freiheitsbegriff der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, wurde praktisch herunter gekocht auf die Entscheidungsfreiheit der Konsumenten, wie Bauman in seinen Betrachtungen zur Postmoderne sarkastisch anmerkt. Seine Feststellung trifft sich mit neueren Zeitgeistdiagnosen, wonach es im globalen Maßstab faktisch nur noch zwei relevante Religionen bzw. ethische Systeme gibt: Den Kapitalismus und den Konsumismus. Beide Religionen verehren das Geld als oberste Gottheit. Das oberste Gebot der Kapitalisten lautet: „Du sollst investieren!“, und das oberste Gebot für den Rest der Menschheit lautet: „Du sollst kaufen!“ Das Ziel der Gleichheit aber ist der Akzeptanz der Verschiedenheit gewichen, wohingegen das eigentlich christliche Gebot der Brüderlichkeit durch das der allumfassenden Toleranz ersetzt wurde.
Als Werte gehören Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit insofern der Moderne an, als sie lediglich im je eigenen Nationalstaat geltend gemacht werden, und der Fremde nur über den mühsamen Weg der Assimilation Teilhabe an diesen Werten beanspruchen kann. Daran hat auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nichts geändert. Im Kontext der Postmoderne tritt an die Stelle des Nationalstaates der Markt, und das ist für uns die Europäische Union. Der Markt sorgt für die Durchsetzung von Freiheit, Verschiedenheit und Toleranz in marktkonformer Interpretation. Von der marktkonformen Freiheit zu konsumieren war oben schon die Rede. Zur Verschiedenheit schreibt Bauman: „Die Verschiedenheit gedeiht; und der Markt gedeiht mit. Genauer, nur solche Verschiedenheit darf gedeihen, die dem Markt nützt.“ Wenn die Wirtschaft meint, aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU einen Nutzen ziehen zu können, dann stellen ethnische, kulturelle oder lebensweltliche Verschiedenheit der auf Arbeitssuche über den Kontinent marodierenden Fremden nicht mehr, wie noch vor ein paar Jahrzehnten, ein politisches Problem dar, statt dessen wird ihre Verschiedenheit ins Positive, ja Begrüßenswerte gekehrt und zur mindestens kulturellen Bereicherung umgedeutet. Gleiches gilt sinngemäß für den Wert der Toleranz, der vom Markt maximal in der Ausprägung als Indifferenz, mithin als Desinteresse befördert wird. „Mit anderen Worten, die vom Markt geförderte Toleranz führt nicht zur Solidarität: sie fragmentiert, statt zu vereinen. Sie dient der Aufsplitterung der Gemeinschaft und der Reduzierung des gesellschaftlichen Bandes auf einen Schimmer an der Oberfläche.“ Es ist dies die Form von Toleranz, die zur Etablierung so genannter Parallelgesellschaften führt, die mit Bezug auf Migranten gern von Konservativen thematisiert werden, und die aus politisch entgegengesetzter Richtung kürzlich von Carlo Strenger massiv kritisiert wurde.
Vor diesem Hintergrund scheint es durchaus plausibel, dass die gleichen Leute, die auf Rednerbühnen und in Internetforen gegen die Fremden polemisieren, auch die herrschende Marktgesellschaft in ihrer EU- und besonders eurozonalen Ausprägung samt zugehöriger Politik- und Wirtschaftselite ins Visier ihrer teils ebenso polemischen Kritik nehmen, die Abkehr von den marktkonformen Werten einfordern und die Rückbesinnung auf christlich-abendländische Werte propagieren. Mit der Berufung auf Werte stehen sie nicht allein da. Auf Werte berufen sich gegenwärtig mehr oder weniger alle Politiker, die in der Flüchtlingsdebatte das Wort erheben, ausgenommen die Linke und Teile der Grünen. Weil Europa eine Wertegemeinschaft darstelle, könne hier nur leben, wer diese Werte respektiere, also schlicht übernähme. Aber was ist mit den Werten und dem vermeintlichen Wertekanon eigentlich gemeint?
Exkurs 3: Das Gerede von den Werten
In den letzten Jahren hat sich vor allem im deutschen Sprachraum eine umfangreiche Wertedebatte entwickelt. Da ist vom Wertewandel, Werteverlust, Wertemangel und von der wichtigen Aufgabe der Wertevermittlung die Rede. Sieht man genauer hin, so ist mit den Werten natürlich nichts Materielles gemeint, und auch nicht das, wonach jedermann ohnehin strebt. Es soll sich dabei um etwas „Höheres“ handeln, das uns angeblich zu irgendetwas verpflichtet, das aber bedroht oder sogar ganz verloren gegangen sei, sodass man es gerade heute wieder in Erinnerung rufen und einfordern müsse. Werte werden im Diskurs interessanterweise dann bemüht, wenn die politischen Argumente ausgereizt sind und höhere moralische Mächte gleichsam rettend eingreifen sollen. Wenn nichts mehr hilft, hilft die Berufung auf unsere Werte. Die Werterhetoriker sind meist in politisch eher konservativen Kreisen anzutreffen.
Das Online-Wörterbuch der Philosophie hält folgende, etwas sperrige Definition des Wertebegriffs parat: „Mit dem Sammel- und Einheitsbegriff ›Wert(e)‹ werden im Allgemeinen grundlegende, konsensuelle Zustimmung einfordernde, gleichermaßen normierend und motivierend wirkende Zielvorstellungen, Orientierungsgrößen und Qualitäten bezeichnet, die – weil sie sich mit Bezug auf anthropologische Grundkonstanten als unabdingbar oder mit Blick auf kontingent (historisch, situativ, kulturell) bedingte Bedürfnis- und Handlungskontexte als zuträglich erwiesen haben – auch tatsächlich angestrebt und gewünscht werden, sodass sich Individuen und Gruppen von ihnen bei ihrer Handlungswahl und ihrer Weltgestaltung leiten lassen.“ Im weitesten Sinne sind Werte also unser Handeln motivierende Vorstellungen oder unser Handeln bestimmende normative Vorgaben. Früher wurden diese Tugenden genannt und jene Güter. Beide Begriffe sind aus der Alltagssprache wie aus dem öffentlichen Diskurs größtenteils verschwunden: Wer von Tugend spricht, gilt als Moralist, wer von Gütern spricht als Materialist. Dafür ist ein geradezu inflationärer Gebrauch des Wertebegriffs zu verzeichnen: soziale Werte, demokratische Werte, westliche Werte, abendländische Werte, traditionelle Werte, Familienwerte, Lebenswerte, negative Werte, und der Begriff selbst ist in seiner Verwendung einigermaßen schwammig geworden. Die Rückkehr zu den Begriffen Gut und Tugend könnte wohl einiges zur Klärung der Motive und Hintergründe der jeweiligen Wertedebatten beitragen.
Ein Gut ist ein Objekt oder eine Eigenschaft eines Objektes, die wir aufgrund eigener Überzeugungen positiv bewerten und deshalb für erstrebenswert halten. Zu solcherart Gütern gehören bspw. Leben, Gesundheit, Freiheit, Frieden. Eine Tugend ist eine Haltung bzw. Charaktereigenschaft einer Person, die wir positiv bewerten und deshalb als gerechtfertigte Handlungsmotivation bevorzugen. Dazu gehören bspw. Gerechtigkeit, Treue, Geduld, Toleranz. Kurz gesagt: Güter sind das, wonach wir streben, Tugenden das, womit wir streben. Weder Tugenden noch Güter sind selbst Werte, und das macht das Gerede von den Werten ja so leidvoll, sondern ihnen werden jeweils Werte beigemessen. Dabei kann der Wert eines Gutes individuell durchaus sehr unterschiedlich ausfallen. Das Gut Frieden wird von einem Waffenhändler sicher anders bewertet als von einer Schwangeren, und, wie die Diskussion um aktive Sterbehilfe zeigt, kann das Gut Leben, das die meisten von uns sicher höher bewerten als das Gut Freiheit, zum Ende hin an Wert soweit verlieren, dass das Streben nach Freiheit im Sterbeprozess die Oberhand gewinnt. Tugenden hingegen scheinen in ihrer positiven Bewertung anthropologisch konstanter zu sein. Treue bspw. gilt gemeinhin als Tugend unabhängig davon, ob sie dem Ehepartner oder dem Mafiaboss entgegen gebracht wird. Bisweilen können ursprünglich individuelle Tugenden auf gesellschaftlicher Ebene zu erstrebenswerten Gütern werden wie bspw. Gerechtigkeit oder Toleranz.
Diese kurze Betrachtung soll verdeutlichen, dass beim Gerede von den Werten höchste Vorsicht geboten und stets zu hinterfragen ist, was der aktuelle Werterhetoriker denn eigentlich meint und, wichtiger noch, innerhalb welcher privaten oder politischen Agenda er (oder sie) sich bewegt. Denn meist, so lautet meine Diagnose, ist nicht von Gütern oder Tugenden, nicht von Werten im Sinne handlungsleitender Vorstellungen oder Motive die Rede, sondern von Normen. Sagt ein Politiker dieser Tage, die Zugewanderten hätten sich an unsere Werte zu halten, dann meint er im besten Fall, dass unsere gesellschaftlichen Normen Geltung für alle hier lebenden Menschen beanspruchen. Normen aber werden gesetzt, zumal im Rechtsstaat, und es ist längst nicht ausgemacht, dass sie mit allgemein akzeptierten Werten übereinstimmen. Steuerzahlung ist eine Norm, ob aber Steuergerechtigkeit ein Gut und Steuerehrlichkeit eine Tugend sind, wäre zu diskutieren. Dass Werte einen handlungsleitenden normativen Charakter haben und somit Normen in dem Sinne begründen können, dass die Norm das mehrheitlich Wünschenswerte repräsentieren sollte, macht sie aber nicht selbst zu Normen. Im Unterschied zu diesen werden Werte nicht gesetzt, sie können nicht verordnet werden. Wenn sie zu Normen werden, dann, weil sie als Handlungsmaximen von der überwältigenden Mehrheit als Normalität akzeptiert und gelebt werden.
Von den Werterhetorikern wird behauptet, wir hätten eine wertebasierte Ordnung, eine Werteordnung. Gemeint aber ist, sofern es um die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens geht, eine normenbasierte, und das heißt schlicht Rechtsordnung. Über dieses Wertegerede hat Carl Schmitt in seiner Schrift „Tyrannei der Werte“ von 1967 das ultimative Urteil gefällt: „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugenden übt man aus; Befehle werden vollzogen; aber Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen. Wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“
Mit der dieser Tage inflationierenden Werterhetorik gegenüber den Fremden werden lediglich Nebelkerzen geworfen. Man sollte jedoch unterscheiden zwischen dem sich auf die europäische Wertegemeinschaft berufenden Politiker, der, weil ihm die positive Rechtsstaatlichkeit von Berufs wegen in den Knochen steckt, wohl nichts anderes meinen kann, als die normative Ordnung der EU, ausgedrückt nicht in den Verträgen und Richtlinien, sondern vor allem in den Urteilen der europäischen Gerichte (EUGH, EGMR), und dem Pegidisten oder AfDler, der sich auf hier vermeintlich geltende Werte beruft und dem Fremden apodiktisch unterstellt, diese nicht zu teilen. Welche Werte aber meint er? Welche Werte, die wir als verbindlich und i.d.R. als universell gültig ansehen, könnten vom Fremden nicht geteilt werden? Welche Werte sind denn überhaupt grundlegend und unabdingbar für unser zivilisiertes und friedliches Zusammenleben? Um Klarheit zu gewinnen, hilft vielleicht, eine Liste mit Gütern und eine mit Tugenden aufzumachen, die man für lebensnotwendig oder doch zumindest für bedeutsam hält, und dann sich selbst zu befragen, welche der Listeneinträge man den Fremden per se absprechen würde.

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