Der
Fremde, der sich bei euch aufhält,
soll
euch wie ein Einheimischer gelten und
du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn
du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn
ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.
(3.
Buch Mose (Levitikus), 19, 34)
Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Fremden. In Gestalt des Kriegsflüchtlings und des aus welch anderen Gründen auch immer Asylsuchenden steht der Fremde vor den Grenzen des Kontinents, ist zu Hunderttausenden bereits hinter diesen angekommen und droht nun, das zu tun, was ihn vom Besucher, vom Wandersmann, vom Streuner, vom Marodeur unterscheidet – zu bleiben, gerade so, wie es Georg Simmel, einer der Väter der modernen Soziologie, 1908 im Exkurs über den Fremden bündig formulierte: „Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt...“
Der Fremde erzeuge Ängste,
heißt es, oder doch zumindest Besorgnisse, selbst oder vielleicht gerade dort,
wo er noch gar nicht präsent ist. Ich behaupte nicht, dass Besorgnisse nicht
gerechtfertigt oder Ängste nicht rational seien, gleichwohl sollte man, um zu
verstehen, woraus sie sich speisen, das Phänomen des Fremden bzw. des Fremdseins näher beleuchten. Zum einen glaube
ich, dass die diffuse Angst vieler Menschen gegenüber dem Fremden u.a. auch
daher rührt, dass sie selbst nicht wissen, wie
es ist, fremd zu sein, sich fremd zu fühlen, dass das Fremdsein nicht zu
ihren Erfahrungswerten gehört und deshalb ein völliges Unverständnis gegenüber
der subjektiven Befindlichkeit des Fremden
als Fremdem vorliegt. Zum anderen
verkörpert die Gestalt des Fremden eine existenzielle Ungewissheit,
Unbestimmtheit, Unberechenbarkeit, die in der Rückprojektion auf uns selbst
geeignet scheinen, das uns allen eignende implizite Vertrauen in die Ordnung
der Dinge und den Verlauf des eigenen Lebens zu erschüttern. Im aktuellen
Kontext ist wohl auch zu berücksichtigen, dass in den Augen vieler der Fremde
nur deshalb vor der Tür steht und Einlass fordert, weil eine ihnen inzwischen
fremd gewordene Macht, die eigene Regierung nämlich, ihm Einlass zu gewähren
sich entschieden hat. Die nicht gewünschte Begegnung mit dem Fremden erscheint als Folge der Bestimmung durch die Fremden.
Nach dem oben zitierten Georg Simmel hat sich, wie kaum ein anderer, der
polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman mit der Figur des Fremden auseinandergesetzt.
In seiner 1991 erschienenen Untersuchung „Moderne
und Ambivalenz“, deren eigentliche (und sicher diskutable) Stoßrichtung der
Nachweis ist, dass der Holocaust die notwendige Folge eines rationalistischen,
der Aufklärung ursächlich verpflichteten Weltbildes sei, das dem
Fortschrittsglauben und der Herrschaft der instrumentellen Vernunft in der
Moderne zu Grunde liegt, widmet Bauman dem Fremden zwei eigene, quasi
propädeutische Kapitel zwecks Entwicklung des theoretischen Unterbaus der im
weiteren Verlauf der Untersuchung
folgenden Darlegungs- und Argumentationslinien. Das Kapitel „Die
gesellschaftliche Konstruktion der Ambivalenz“ thematisiert den Fremden vom
Standpunkt der etablierten Gesellschaft. Bauman nimmt hier die Position derer
ein, die sich dem Fremden gegenüber sehen, ihn als Bedrohung ihrer gewohnten
Ordnung empfinden und deshalb von ihm erwarten, dass er entweder verschwinden
oder sich gefälligst assimilieren möge. Im daran anschließenden Kapitel „Die
Selbsterzeugung der Ambivalenz“ übernimmt der Autor hingegen die Perspektive
des Fremden selbst und folgt ihm bei seinen letztlich erfolglosen Versuchen,
seine Fremdheit abzulegen und sich in die vorgefundene Ordnung einzufügen.
Baumans Analysen beider Positionen scheinen mir ausgesprochen hilfreich um zu
verstehen, worin jenseits aller politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen
Bruchlinien die reale Substanz der aktuellen gesellschaftlichen Konfrontationen
auf dem Gebiet der Flüchtlings- und Asylpolitik besteht. Der ursprünglich wohl
aus der Psychologie stammende Begriff der Ambivalenz steht bei Bauman als soziologischer terminus technicus für das Mehrdeutige, Zwiespältige,
Widersprüchliche, aber auch das Ungeordnete,
Ungewisse der Moderne: „Ambivalenz, die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein
Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen, ist eine sprachliche
Unordnung: ein Versagen der Nenn- (Trenn-) Funktion, die Sprache doch
eigentlich erfüllen soll.“
Bauman beginnt seinen
Diskurs über den Fremden mit dessen Nichtkategorisierbarkeit: „Es gibt Freunde
und Feinde. Und es gibt Fremde.“ Das
ist nun keineswegs als alltagstaugliche Klassifizierung aller Menschen in
Freunde, Feinde und Fremde zu verstehen. Ohne explizit darauf zu verweisen,
bedient sich Bauman hier der Schmittschen Definition des Politischen als des
Bereichs, in dem zwischen Freund und Feind unterschieden wird, und macht
deutlich, dass er den Fremden als politische
Kategorie ansieht. In dem der
Fremde sich der politisch eindeutigen Freund/Feind-Dichotomie entzieht, wirkt
er als Quelle von Ambivalenz. Er ist politisch unbestimmbar: „Unentscheidbare
sind alle weder/noch; was
soviel sagt wie, daß sie gegen das entweder/oder kämpfen. Ihre Unterbestimmtheit ist
ihre Macht: Weil sie nichts sind, können sie alles sein. Sie machen Schluß mit
der ordnenden Macht der Opposition und ebenso mit der ordnenden Macht des
Erzählers der Opposition. Oppositionen ermöglichen Wissen und Handeln;
Unentscheidbare lähmen sie. Unentscheidbare exponieren brutal das Künstliche,
die Fragilität, das Heuchlerische der lebenswichtigsten unter den Trennungen.
Sie bringen das Außen nach Innen und vergiften das Tröstende der Ordnung durch
den Argwohn gegen das Chaos. Dies ist genau das, was die Fremden tun.“
Die Fremden entlarven also
die Künstlichkeit und Fragilität unserer selbstgebastelten Ordnungsschemata,
indem sie die Grenzen, die uns doch vor der latenten Unordnung und Barbarei da
draußen schützen sollen, einfach überrennen. Politiker wie Bürger sind selten
Soziologen oder Historiker: In der Regel sind sie sich dessen nicht bewusst,
dass ihre gewohnten Ordnungen historisch gewachsene Konstrukte ohne jegliche
Notwendigkeit sind und schon gar keiner Naturgesetzlichkeit unterliegen. (Dass
etwas ist, wie es ist, bedeutet nicht, dass es notwendigerweise so sein muss.
Aus Sein folgt nicht Sollen, wusste bereits David Hume.) Sie klammern sich aber
an die Ordnung und fordern, wo sie zusammen gebrochen scheint, deren Wiederherstellung,
gerade so, als würden die eindringenden Fremden nur einen etwas weiteren Ausschlag
des Alltagspendels bewirken, das qua Naturgesetz in seine Ausgangsposition der
Ruhe zurückkehren muss. Zur Wiederherstellung der Ordnung muss der Fremde in
das Freund/Feind-Schema eingepasst werden, und so teilen sich Bürger und Politiker
in solche, die die Fremden als Freunde willkommen heißen und jene, die sie als
Feinde ablehnen oder gar bekämpfen.
Bauman zufolge beruht
unsere, nunmehr gestörte Ordnung auf dem Prinzip der territorialen und
funktionalen Trennung: Zum einen wird der Fremde üblicherweise territorial
abgesondert durch äußere oder auch innere Grenzen (bspw. Lager, Ghetto,
Urlaubs-Ressorts), zum anderen wird dem Fremden, wenn er denn als Besucher
kommt, also von sich aus auch absehbar wieder gehen wird, eine spezielle,
funktional vermittelnde Betreuung zu Teil (bspw. Reiseführer, Übersetzer,
diplomatisches Protokoll). Die territoriale und funktionale Trennung verhindert
den Clash und bewahrt uns davor, den Fremden in
Freund oder Feind klassifizieren zu müssen. Aber: „Territoriale und funktionale
Trennungen genügen nicht länger, sobald sich einmal das lediglich Unvertraute als der wahre Fremde herausstellt...“, schreibt Bauman und
weiter: „Der Fremde ist tatsächlich jemand, der sich weigert, sich auf das
«ferne Land» beschränken zu lassen oder aus unserem eigenen fortzugehen und der
daher a priori dem bequemen Hilfsmittel der
räumlichen und zeitlichen Absonderung Widerstand leistet. Der Fremde kommt in
die Lebenswelt und läßt sich hier nieder, und folglich wird es – im Unterschied
zum bloßen Unvertrauten – relevant,
ob er ein Freund oder ein Feind ist. Er hat seinen Weg in die Lebenswelt uneingeladen gemacht, wodurch er mich auf die
Empfängerseite seiner Initiative gestellt, mich zum Objekt des Handelns gemacht
hat, dessen Subjekt er ist: All dies ist...ein notorisches Merkmal des Feindes.“ Insofern wäre es
nicht nur verständlich sondern auch konsequent, im wahren Fremden den wahren
Feind zu sehen, denn er ist eingedrungen in meine Lebenswelt, er nötigt mich,
ihm Platz zu machen, und: „Schlimmer noch, er beansprucht das Recht, Gegenstand
von Verantwortlichkeit zu sein – das vertraute Attribut eines Freundes.“
Die Behandlung des und der
Umgang mit dem Fremden erzeugen politische Ambivalenz im Großen wie auch
zwiespältige Gefühle im Kleinen: Da er nun mal da ist und nicht von sich aus zu
verschwinden gedenkt und eben deshalb Teil unserer gesellschaftlichen
Wirklichkeit wird, müssen wir uns ihm gegenüber positionieren. Wie schwer es
ist, eine gleichsam neutrale Position einzunehmen, die den Fremden nicht in das
Freund/Feind-Schema presst, sondern ihn als dritte politische Kategorie anerkennt,
dazu kann sich jeder selbst befragen. Denn sicher kann ich mich auf den distanzierten
Standpunkt stellen, dass ich die Ankommenden ja gar nicht willkommen heißen
muss, dass ich es auch als wohlmeinender Mensch nicht unbedingt gut finden
muss, dass hunderttausende Asylsuchende in
mein Land drängen und Platz in meinem Haus, an meinem Tisch beanspruchen, es hingegen vollauf
genügt zu akzeptieren, dass es eben so ist, und mich irgendwie damit zu
arrangieren. Diese Haltung distanzierter Neutralität kann ich einnehmen, so
lange mein Leben nicht wirklich betroffen ist. Doch irgendwann werden die
Veränderungen auch für mich so gravierend, dass ich entscheiden muss. „Der
Fremde, der sich weigert zu gehen, verwandelt schrittweise seinen zeitweiligen
Aufenthaltsort in ein heimatliches Territorium – und zwar umso mehr, als seine
andere, «ursprüngliche» Heimat in die Vergangenheit zurückweicht und vielleicht
völlig verschwindet.“ Kann ich also wirklich neutral distanziert bleiben,
wenn in meiner Nachbarschaft ethnische, kulturelle, religiöse Enklaven
entstehen, bei deren Betreten ich der fremde Besucher bin? Oder, anders
gefragt, ist es denn wünschenswert, dass aufgrund von ängstlicher Vermeidung
einer klaren Ja/Nein-Entscheidung im Raum des Politischen, aufgrund einer sich
neutral wähnenden Zurückhaltung im Namen der politischen Korrektheit, aufgrund
der Furcht vor gesellschaftlichen Konflikten mit ungewissem Ausgang und
etwaigem Ansehensverlust der Akteure solche Enklaven überhaupt erst entstehen
können? Ob man will oder nicht, letztlich kann man sich wohl der auch persönlichen
Entscheidung nicht entziehen, denn, wie Bauman feststellt, können wir uns die
Entwicklung nicht mit dem selben Gleichmut ansehen, wie der Fremde es offensichtlich
kann, der ja immer noch seine Freiheit zu gehen behält – zurück in sein
Ursprungsland oder weiter in ein anderes. „Man kann dem Engagement, das der
Fremde zeigt, der Loyalität, die er verspricht, der Hingabe, die er
demonstriert, nicht trauen: Sie haben das Sicherheitsventil der leichten
Flucht...“ Man muss sich also positionieren.
Der institutionelle Rahmen,
sich zu positionieren, ist laut Bauman der moderne Nationalstaat: „Der
Nationalstaat ist primär dazu bestimmt, mit dem Problem der Fremden, nicht mit
dem der Feinde fertigzuwerden.“ Im Rahmen des Nationalstaates werden
aus den Freunden die Einheimischen als jene Bewohner des nationalstaatlichen
Territoriums, ausgestattet mit besonderen, nur auf diesem Territorium geltenden
Rechten, die ihnen zustehen, nur und gerade weil sie im Moment der Konstituierung
des Nationalstaates auf dessen Territorium angesiedelt waren. Danach kann Einheimischer
nur werden, wem diese territorial bezogenen Rechte zugesprochen werden. Die
Entscheidungsvollmacht des Nationalstaates löst freilich nicht das Problem mit
dem Fremden, denn die ideologisch gravierendste Konsequenz der Nationalstaatlichkeit
und gleichsam ihre fundamentale Bedingung ist der Nationalismus. Der Nationalismus
behauptet nicht nur den Vorrang alles Einheimischen vor allem Fremden, sondern
propagiert regelrecht „die ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle
Homogenität“ als Zugehörigkeitskriterium. Dabei wird in völliger Verkennung
historischer Evidenzen eine von Mythen und Märchen begleitete Rückprojektion
der aktuellen Sicht auf die eigene Nation in eine weit zurückliegende Vergangenheit
vorgenommen, die wiederum als „natürliche“ Rechtfertigung für die nationalistischen
Behauptungen und Forderungen dient. So erscheinen in solch nationalistischem
Gewand Hermann der Cherusker als Stammvater aller Deutschen und die
siegreiche Varusschlacht als Beginn der Ethnogenese auf seither angestammtem
deutschem Territorium, die Völkerschlacht bei Leipzig als heroische Urgründung
des späteren Deutschen (Bismarck-) Reichs oder das „Wirtschaftswunder“ als
alleiniges Verdienst der fleißigen westdeutschen Bevölkerung.
Der Fremde ist schlicht der Zuspätgekommene: Das Recht, Einheimischer zu werden, muss er sich erst durch Assimilation verdienen. Der entsprechende Standardsatz des Eingeborenen lautet: Ich habe nichts gegen Ausländer, sie sollen sich nur anständig benehmen. Anstand aber ist, wie uns Morgan Freeman als Richter White im Film „Fegefeuer der Eitelkeiten“ eingebläut hat, das „was Ihre Großmutter Sie gelehrt hat. Es steckt in Ihren verdammten Knochen.“ Die Großmütter derer jedoch, die gerade zu uns kommen, sind fern, und was in den Knochen ihrer Enkel steckt, kann sich erheblich von dem unterscheiden, was der Einheimische unter Anstand versteht. Von solchem Nativismus, vom Begriff der Nation als Wertegemeinschaft, als Schicksalsgemeinschaft und als Bestimmungsgemeinschaft (selbst, wenn er sich inzwischen gern nicht auf die Nation, sondern auf das europäische Projekt oder gar das Christliche Abendland bezieht) ist es bekanntermaßen nicht weit zum offenen Rassismus mit all seinen verheerenden praktischen Konsequenzen, die, nicht zuletzt eingedenk historischer Erfahrungen, niemand von uns für wünschenswert hält, auch nicht der Anstandsprediger.
Der Fremde ist schlicht der Zuspätgekommene: Das Recht, Einheimischer zu werden, muss er sich erst durch Assimilation verdienen. Der entsprechende Standardsatz des Eingeborenen lautet: Ich habe nichts gegen Ausländer, sie sollen sich nur anständig benehmen. Anstand aber ist, wie uns Morgan Freeman als Richter White im Film „Fegefeuer der Eitelkeiten“ eingebläut hat, das „was Ihre Großmutter Sie gelehrt hat. Es steckt in Ihren verdammten Knochen.“ Die Großmütter derer jedoch, die gerade zu uns kommen, sind fern, und was in den Knochen ihrer Enkel steckt, kann sich erheblich von dem unterscheiden, was der Einheimische unter Anstand versteht. Von solchem Nativismus, vom Begriff der Nation als Wertegemeinschaft, als Schicksalsgemeinschaft und als Bestimmungsgemeinschaft (selbst, wenn er sich inzwischen gern nicht auf die Nation, sondern auf das europäische Projekt oder gar das Christliche Abendland bezieht) ist es bekanntermaßen nicht weit zum offenen Rassismus mit all seinen verheerenden praktischen Konsequenzen, die, nicht zuletzt eingedenk historischer Erfahrungen, niemand von uns für wünschenswert hält, auch nicht der Anstandsprediger.
Exkurs Nr.
1: Die Rede vom Volk
Volk
ist ein mehrdeutiger, ambivalenter, ja schillernder Begriff. Und er
ist zweifelsohne politisch kontaminiert. Redet jemand von dem
Volk, muss genau darauf geachtet
werden, welche Bedeutung er diesem Wort im jeweils konkreten Kontext
beimisst.
Als
im Herbst des Jahres 1989 in Leipzig und andernorts Bürger der DDR
auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk!“ skandierten, war
damit mitnichten die ethnische oder gar national-patriotische
Auslegung des Volksbegriffs gemeint. Das Wort vom Volk wurde
einerseits gebraucht in seiner viel ursprünglicheren Bedeutung als
gemeines, als
einfaches Volk, als
populus in Abgrenzung zur
Machtelite des SED-Staates, aber auch als Staatsvolk,
von dem die Parteiführung und ihre verschiedenen Machtorgane
(Justiz, Polizei, Armee, Staatssicherheit usf.) zwar jahrzehntelang
für sich in Anspruch genommen hatten, es angemessen zu vertreten,
etwa in der Volkskammer
oder beim Volkseigentum,
von der sich diese Bürger aber eben in diesem Geltungsanspruch
des Staates als Staat des Volkes zunehmend verraten fühlten. Im „Wir
sind das Volk!“ wurde also ein unzweifelhaft politischer
Volksbegriff verwendet, der zunächst keinerlei Deutungsbezug zu
nationalistischen, völkischen oder gar rassistischen
Interpretationen zuließ. Die Masse der Demonstranten des 1989er
Oktobers war eines sicherlich nicht: Nationalisten.
Dieser
Eindruck und diese Gewissheit sollten sich bald ändern, als nach der
Grenzöffnung am 9. November aus dem „Wir sind das
Volk!“ unversehens „Wir sind ein
Volk!“ wurde, und so die anfangs noch innenpolitische Perspektive
(Politik- und Machtwechsel) in den Hintergrund trat und unversehens
die nationale Frage der Deutschen Einheit in den Vordergrund rückte.
Das war i.Ü. auch der Moment, an dem ich mich aus dem Kreis der
Demonstrierenden zurück zog, denn mit dem Wandel der politischen
Zielsetzung ging auch eine zunehmende Ruppigkeit, ja Aggressivität
in der Artikulation einher. Der Ruf „Wir sind ein
Volk!“ bekam bereits damals eine nationalistische, mindestens aber
national-patriotische Note; und er war exkludierend: Als jemand, der
auf den Demonstrationen und Kundgebungen dazu nicht jubelnd
applaudierte, sondern eher nachdenklich dreinblickte, bekam ich böse
Blicke zu spüren und ausgrenzende Zurufe zu hören, die hier zu
zitieren mir unpassend scheint.
Wenn
bei PEGIDA und ihren Ablegern sowie bei AfD-Kundgebungen im Osten
wieder „Wir sind das Volk!“ gerufen wird, dann ist dies m.E. ein
bewusster, zumindest aber fahrlässiger Missbrauch der ursprünglichen
´89er Bedeutung des Satzes. In wohlwollender Interpretation könnte
man den Missbrauch noch auf eine ähnliche Gefühlslage der
Demonstranten als einfacher, sich von der Machtelite (der Philosoph
Bernhard Taureck bezeichnete diese in einem Radio-Essay
von 2011 als Geld-Macht-Medien-Verbund)
verraten
geglaubter Teil der Bevölkerung,
reduzieren. Durch die offen fremdenfeindlichen und rassistischen
Äußerungen der Redner, durch die Plakate und Sprechchöre, durch
die zur Schau gestellten Insignien aber wird daraus offener
völkischer Nationalismus, die Rede
vom Volk
entlarvt sich als Behauptung einer biologistisch-genealogischen Blut-
und Schicksalsgemeinschaft der Deutschen im angeblichen Kampf gegen
das Fremde schlechthin.
Will der wohlmeinende
Einheimische eine angemessen liberale Haltung zum Fremden finden, die
Ausgrenzung oder Stigmatisierung vermeidet, plädiert er für dessen Integration, was im Grunde
genommen nichts grundsätzlich anderes bedeutet als Assimilation, nicht in die
vaterländische, aber doch in die Werte- und Handlungsgemeinschaft. Die Fremden
sollen nun nicht mehr werden wie wir, sie sollen nur noch so handeln wie wir. Der
aufgeklärte Liberale erwartet nicht das Bekenntnis zur Bergpredigt; an deren
Stelle tritt der kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz
werde.“, und gleichermaßen das Bekenntnis zum je geltenden Recht. Bauman stellt gleichwohl fest, dass das Streben nach Erfüllung der liberalen Integrationserwartung
den Fremden nicht wirklich weiter bringt. „Determinanten der «Fremdheit»“, schreibt Bauman, „sind
in diesen Fällen eminent geschmeidig; von Menschen gemacht, können sie im
Prinzip von Menschen annulliert werden... Das Annullieren verlangt lediglich
einen Orientierungswechsel, eine Verlagerung an kommunaler Bindung, eine ehrliche
Anstrengung der Selbstkultivierung und Selbstverfeinerung oder religiöse
Konversion – alles Dinge, die offensichtlich in der Macht des einzelnen
liegen.“ Häufig geben sich Fremde „alle Mühe, alles, was sie von den
rechtmäßigen Mitgliedern einer einheimischen Gesellschaft unterscheidet, zu
unterdrücken – und zu hoffen, dass eine devote Nachahmung einheimischer Bräuche
sie von den Gastgebern ununterscheidbar macht und eben dadurch ihre Reklassifikation
als Insider garantiert, die ein Recht auf Behandlung
haben, die Freunde gewohnheitsmäßig erfahren. Je angestrengter sie sich
bemühen, desto schneller scheint die Ziellinie zurückzuweichen. Wenn sie
endlich in Reichweite zu sein scheint, wird unter dem liberalen Mantel der
Dolch des Rassismus hervorgezogen. Die Spielregeln werden ohne große Vorwarnung
geändert. Oder eher, erst jetzt entdecken die Fremden, die sich ernsthaft um «Selbstverfeinerung» bemühen, daß das, was sie fälschlicherweise
für ein Spiel der Selbstemanzipation gehalten haben, in Wirklichkeit ein Spiel
der Beherrschung ist.“ Das ist wohl die Erfahrung, die die jungen
Angehörigen der dritten Generation Deutscher mit Migrationshintergrund seit
einigen Jahren machen. Hier geboren und aufgewachsen im Glauben an die völlige Gleichberechtigung mit den (welch furchtbarer Ausdruck) Biodeutschen, müssen
sie bald feststellen, dass sie für die Mehrheitsgesellschaft weiter die Fremden
sind. Den meisten sieht man schon rein äußerlich die ethnische Differenz an; so
sind sie Staatsbürger und gelten doch nicht als Deutsche. Aus der Perspektive
der Mehrheit sind alle Fremden gleich – Türken, Araber, Neger. Sie werden
beurteilt nicht nach den fähigsten Vertretern ihrer Gruppe, sondern nach den am
wenigsten erfolgreichen. Das Urteil über Neu-Kölln wird anhand der Auskünfte
Heinz Buschkowskys über notorisch kriminelle Jugendliche gefällt, die Polen
galten lange Zeit als Autodiebe, die Asylsuchenden des Jahres 2015 sind
vorwiegend junge Männer und deshalb notwendig potenzielle
Vergewaltiger usf.
Nach Bauman ist das
Projekt der Integration als kultureller Assimilation zum Scheitern verurteilt.
Selbst für den wohlmeinenden Liberalen stellt sich die Fremdheit des Fremden
irgendwann als soziales und kulturelles Phänomen dar. Statt plumper ethnischer Gründe
werden soziale und kulturelle Ursachen für die Integrationsunfähigkeit des
Fremden ausgemacht, wobei die Verantwortung dafür zu großen Teilen dem Fremden
selbst zugewiesen wird: Er hatte ja alle Chancen, er hat sie aber nicht genutzt.
Nach dieser, für uns wohl
doch eher deprimierenden, wiewohl nicht unbegründeten Erkenntnis (Du bleibst,
was Du warst.) wechselt Zygmunt Bauman die Seite und analysiert die Ambivalenz
des Fremden aus dessen Perspektive. Dazu Teil 2.
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