Dienstag, 3. November 2015

Fremd sein - Zygmunt Bauman revisited. Teil 1

Der Fremde, der sich bei euch aufhält,
soll euch wie ein Einheimischer gelten und
du sollst ihn lieben wie dich selbst; 
denn
ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.
(3. Buch Mose (Levitikus), 19, 34)

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Fremden. In Gestalt des Kriegsflüchtlings und des aus welch anderen Gründen auch immer Asylsuchenden steht der Fremde vor den Grenzen des Kontinents, ist zu Hunderttausenden bereits hinter diesen angekommen und droht nun, das zu tun, was ihn vom Besucher, vom Wandersmann, vom Streuner, vom Marodeur unterscheidet – zu bleiben, gerade so, wie es Georg Simmel, einer der Väter der modernen Soziologie, 1908 im Exkurs über den Fremden bündig formulierte: „Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt...“

Der Fremde erzeuge Ängste, heißt es, oder doch zumindest Besorgnisse, selbst oder vielleicht gerade dort, wo er noch gar nicht präsent ist. Ich behaupte nicht, dass Besorgnisse nicht gerechtfertigt oder Ängste nicht rational seien, gleichwohl sollte man, um zu verstehen, woraus sie sich speisen, das Phänomen des Fremden bzw. des Fremdseins näher beleuchten. Zum einen glaube ich, dass die diffuse Angst vieler Menschen gegenüber dem Fremden u.a. auch daher rührt, dass sie selbst nicht wissen, wie es ist, fremd zu sein, sich fremd zu fühlen, dass das Fremdsein nicht zu ihren Erfahrungswerten gehört und deshalb ein völliges Unverständnis gegenüber der subjektiven Befindlichkeit des Fremden als Fremdem vorliegt. Zum anderen verkörpert die Gestalt des Fremden eine existenzielle Ungewissheit, Unbestimmtheit, Unberechenbarkeit, die in der Rückprojektion auf uns selbst geeignet scheinen, das uns allen eignende implizite Vertrauen in die Ordnung der Dinge und den Verlauf des eigenen Lebens zu erschüttern. Im aktuellen Kontext ist wohl auch zu berücksichtigen, dass in den Augen vieler der Fremde nur deshalb vor der Tür steht und Einlass fordert, weil eine ihnen inzwischen fremd gewordene Macht, die eigene Regierung nämlich, ihm Einlass zu gewähren sich entschieden hat. Die nicht gewünschte Begegnung mit dem Fremden erscheint als Folge der Bestimmung durch die Fremden.

Nach dem oben zitierten Georg Simmel hat sich, wie kaum ein anderer, der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman mit der Figur des Fremden auseinandergesetzt. In seiner 1991 erschienenen Untersuchung „Moderne und Ambivalenz“, deren eigentliche (und sicher diskutable) Stoßrichtung der Nachweis ist, dass der Holocaust die notwendige Folge eines rationalistischen, der Aufklärung ursächlich verpflichteten Weltbildes sei, das dem Fortschrittsglauben und der Herrschaft der instrumentellen Vernunft in der Moderne zu Grunde liegt, widmet Bauman dem Fremden zwei eigene, quasi propädeutische Kapitel zwecks Entwicklung des theoretischen Unterbaus der im weiteren Verlauf der Untersuchung  folgenden Darlegungs- und Argumentationslinien. Das Kapitel „Die gesellschaftliche Konstruktion der Ambivalenz“ thematisiert den Fremden vom Standpunkt der etablierten Gesellschaft. Bauman nimmt hier die Position derer ein, die sich dem Fremden gegenüber sehen, ihn als Bedrohung ihrer gewohnten Ordnung empfinden und deshalb von ihm erwarten, dass er entweder verschwinden oder sich gefälligst assimilieren möge. Im daran anschließenden Kapitel „Die Selbsterzeugung der Ambivalenz“ übernimmt der Autor hingegen die Perspektive des Fremden selbst und folgt ihm bei seinen letztlich erfolglosen Versuchen, seine Fremdheit abzulegen und sich in die vorgefundene Ordnung einzufügen. Baumans Analysen beider Positionen scheinen mir ausgesprochen hilfreich um zu verstehen, worin jenseits aller politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Bruchlinien die reale Substanz der aktuellen gesellschaftlichen Konfrontationen auf dem Gebiet der Flüchtlings- und Asylpolitik besteht. Der ursprünglich wohl aus der Psychologie stammende Begriff der Ambivalenz steht bei Bauman als soziologischer terminus technicus für das Mehrdeutige, Zwiespältige, Widersprüchliche, aber auch das Ungeordnete,  Ungewisse der Moderne: „Ambivalenz, die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen, ist eine sprachliche Unordnung: ein Versagen der Nenn- (Trenn-) Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll.“

Bauman beginnt seinen Diskurs über den Fremden mit dessen Nichtkategorisierbarkeit: „Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde.“ Das ist nun keineswegs als alltagstaugliche Klassifizierung aller Menschen in Freunde, Feinde und Fremde zu verstehen. Ohne explizit darauf zu verweisen, bedient sich Bauman hier der Schmittschen Definition des Politischen als des Bereichs, in dem zwischen Freund und Feind unterschieden wird, und macht deutlich, dass er den Fremden als politische Kategorie ansieht. In dem der Fremde sich der politisch eindeutigen Freund/Feind-Dichotomie entzieht, wirkt er als Quelle von Ambivalenz. Er ist politisch unbestimmbar: „Unentscheidbare sind alle weder/noch; was soviel sagt wie, daß sie gegen das entweder/oder kämpfen. Ihre Unterbestimmtheit ist ihre Macht: Weil sie nichts sind, können sie alles sein. Sie machen Schluß mit der ordnenden Macht der Opposition und ebenso mit der ordnenden Macht des Erzählers der Opposition. Oppositionen ermöglichen Wissen und Handeln; Unentscheidbare lähmen sie. Unentscheidbare exponieren brutal das Künstliche, die Fragilität, das Heuchlerische der lebenswichtigsten unter den Trennungen. Sie bringen das Außen nach Innen und vergiften das Tröstende der Ordnung durch den Argwohn gegen das Chaos. Dies ist genau das, was die Fremden tun.“

Die Fremden entlarven also die Künstlichkeit und Fragilität unserer selbstgebastelten Ordnungsschemata, indem sie die Grenzen, die uns doch vor der latenten Unordnung und Barbarei da draußen schützen sollen, einfach überrennen. Politiker wie Bürger sind selten Soziologen oder Historiker: In der Regel sind sie sich dessen nicht bewusst, dass ihre gewohnten Ordnungen historisch gewachsene Konstrukte ohne jegliche Notwendigkeit sind und schon gar keiner Naturgesetzlichkeit unterliegen. (Dass etwas ist, wie es ist, bedeutet nicht, dass es notwendigerweise so sein muss. Aus Sein folgt nicht Sollen, wusste bereits David Hume.) Sie klammern sich aber an die Ordnung und fordern, wo sie zusammen gebrochen scheint, deren Wiederherstellung, gerade so, als würden die eindringenden Fremden nur einen etwas weiteren Ausschlag des Alltagspendels bewirken, das qua Naturgesetz in seine Ausgangsposition der Ruhe zurückkehren muss. Zur Wiederherstellung der Ordnung muss der Fremde in das Freund/Feind-Schema eingepasst werden, und so teilen sich Bürger und Politiker in solche, die die Fremden als Freunde willkommen heißen und jene, die sie als Feinde ablehnen oder gar bekämpfen.

Bauman zufolge beruht unsere, nunmehr gestörte Ordnung auf dem Prinzip der territorialen und funktionalen Trennung: Zum einen wird der Fremde üblicherweise territorial abgesondert durch äußere oder auch innere Grenzen (bspw. Lager, Ghetto, Urlaubs-Ressorts), zum anderen wird dem Fremden, wenn er denn als Besucher kommt, also von sich aus auch absehbar wieder gehen wird, eine spezielle, funktional vermittelnde Betreuung zu Teil (bspw. Reiseführer, Übersetzer, diplomatisches Protokoll). Die territoriale und funktionale Trennung verhindert den Clash und bewahrt uns davor, den Fremden in Freund oder Feind klassifizieren zu müssen. Aber: „Territoriale und funktionale Trennungen genügen nicht länger, sobald sich einmal das lediglich Unvertraute als der wahre Fremde herausstellt...“, schreibt Bauman und weiter: „Der Fremde ist tatsächlich jemand, der sich weigert, sich auf das «ferne Land» beschränken zu lassen oder aus unserem eigenen fortzugehen und der daher a priori dem bequemen Hilfsmittel der räumlichen und zeitlichen Absonderung Widerstand leistet. Der Fremde kommt in die Lebenswelt und läßt sich hier nieder, und folglich wird es – im Unterschied zum bloßen Unvertrauten – relevant, ob er ein Freund oder ein Feind ist. Er hat seinen Weg in die Lebenswelt uneingeladen gemacht, wodurch er mich auf die Empfängerseite seiner Initiative gestellt, mich zum Objekt des Handelns gemacht hat, dessen Subjekt er ist: All dies ist...ein notorisches Merkmal des Feindes.“ Insofern wäre es nicht nur verständlich sondern auch konsequent, im wahren Fremden den wahren Feind zu sehen, denn er ist eingedrungen in meine Lebenswelt, er nötigt mich, ihm Platz zu machen, und: „Schlimmer noch, er beansprucht das Recht, Gegenstand von Verantwortlichkeit zu sein – das vertraute Attribut eines Freundes.“

Die Behandlung des und der Umgang mit dem Fremden erzeugen politische Ambivalenz im Großen wie auch zwiespältige Gefühle im Kleinen: Da er nun mal da ist und nicht von sich aus zu verschwinden gedenkt und eben deshalb Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit wird, müssen wir uns ihm gegenüber positionieren. Wie schwer es ist, eine gleichsam neutrale Position einzunehmen, die den Fremden nicht in das Freund/Feind-Schema presst, sondern ihn als dritte politische Kategorie anerkennt, dazu kann sich jeder selbst befragen. Denn sicher kann ich mich auf den distanzierten Standpunkt stellen, dass ich die Ankommenden ja gar nicht willkommen heißen muss, dass ich es auch als wohlmeinender Mensch nicht unbedingt gut finden muss, dass hunderttausende Asylsuchende in mein Land drängen und Platz in meinem Haus, an meinem Tisch beanspruchen, es hingegen vollauf genügt zu akzeptieren, dass es eben so ist, und mich irgendwie damit zu arrangieren. Diese Haltung distanzierter Neutralität kann ich einnehmen, so lange mein Leben nicht wirklich betroffen ist. Doch irgendwann werden die Veränderungen auch für mich so gravierend, dass ich entscheiden muss. „Der Fremde, der sich weigert zu gehen, verwandelt schrittweise seinen zeitweiligen Aufenthaltsort in ein heimatliches Territorium – und zwar umso mehr, als seine andere, «ursprüngliche» Heimat in die Vergangenheit zurückweicht und vielleicht völlig verschwindet.“ Kann ich also wirklich neutral distanziert bleiben, wenn in meiner Nachbarschaft ethnische, kulturelle, religiöse Enklaven entstehen, bei deren Betreten ich der fremde Besucher bin? Oder, anders gefragt, ist es denn wünschenswert, dass aufgrund von ängstlicher Vermeidung einer klaren Ja/Nein-Entscheidung im Raum des Politischen, aufgrund einer sich neutral wähnenden Zurückhaltung im Namen der politischen Korrektheit, aufgrund der Furcht vor gesellschaftlichen Konflikten mit ungewissem Ausgang und etwaigem Ansehensverlust der Akteure solche Enklaven überhaupt erst entstehen können? Ob man will oder nicht, letztlich kann man sich wohl der auch persönlichen Entscheidung nicht entziehen, denn, wie Bauman feststellt, können wir uns die Entwicklung nicht mit dem selben Gleichmut ansehen, wie der Fremde es offensichtlich kann, der ja immer noch seine Freiheit zu gehen behält – zurück in sein Ursprungsland oder weiter in ein anderes. „Man kann dem Engagement, das der Fremde zeigt, der Loyalität, die er verspricht, der Hingabe, die er demonstriert, nicht trauen: Sie haben das Sicherheitsventil der leichten Flucht...“ Man muss sich also positionieren. 

Der institutionelle Rahmen, sich zu positionieren, ist laut Bauman der moderne Nationalstaat: „Der Nationalstaat ist primär dazu bestimmt, mit dem Problem der Fremden, nicht mit dem der Feinde fertigzuwerden.“ Im Rahmen des Nationalstaates werden aus den Freunden die Einheimischen als jene Bewohner des nationalstaatlichen Territoriums, ausgestattet mit besonderen, nur auf diesem Territorium geltenden Rechten, die ihnen zustehen, nur und gerade weil sie im Moment der Konstituierung des Nationalstaates auf dessen Territorium angesiedelt waren. Danach kann Einheimischer nur werden, wem diese territorial bezogenen Rechte zugesprochen werden. Die Entscheidungsvollmacht des Nationalstaates löst freilich nicht das Problem mit dem Fremden, denn die ideologisch gravierendste Konsequenz der Nationalstaatlichkeit und gleichsam ihre fundamentale Bedingung ist der Nationalismus. Der Nationalismus behauptet nicht nur den Vorrang alles Einheimischen vor allem Fremden, sondern propagiert regelrecht „die ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Homogenität“ als Zugehörigkeitskriterium. Dabei wird in völliger Verkennung historischer Evidenzen eine von Mythen und Märchen begleitete Rückprojektion der aktuellen Sicht auf die eigene Nation in eine weit zurückliegende Vergangenheit vorgenommen, die wiederum als „natürliche“ Rechtfertigung für die nationalistischen Behauptungen und Forderungen dient. So erscheinen in solch nationalistischem Gewand Hermann der Cherusker als Stammvater aller Deutschen und die siegreiche Varusschlacht als Beginn der Ethnogenese auf seither angestammtem deutschem Territorium, die Völkerschlacht bei Leipzig als heroische Urgründung des späteren Deutschen (Bismarck-) Reichs oder das „Wirtschaftswunder“ als alleiniges Verdienst der fleißigen westdeutschen Bevölkerung. 

Der Fremde ist schlicht der Zuspätgekommene: Das Recht, Einheimischer zu werden, muss er sich erst durch Assimilation verdienen. Der entsprechende Standardsatz des Eingeborenen lautet: Ich habe nichts gegen Ausländer, sie sollen sich nur anständig benehmen. Anstand aber ist, wie uns Morgan Freeman als Richter White im Film „Fegefeuer der Eitelkeiten“ eingebläut hat, das „was Ihre Großmutter Sie gelehrt hat. Es steckt in Ihren verdammten Knochen.“ Die Großmütter derer jedoch, die gerade zu uns kommen, sind fern, und was in den Knochen ihrer Enkel steckt, kann sich erheblich von dem unterscheiden, was der Einheimische unter Anstand versteht. Von solchem Nativismus, vom Begriff der Nation als Wertegemeinschaft, als Schicksalsgemeinschaft und als Bestimmungsgemeinschaft (selbst, wenn er sich inzwischen gern nicht auf die Nation, sondern auf das europäische Projekt oder gar das Christliche Abendland bezieht) ist es bekanntermaßen nicht weit zum offenen Rassismus mit all seinen verheerenden praktischen Konsequenzen, die, nicht zuletzt eingedenk historischer Erfahrungen, niemand von uns für wünschenswert hält, auch nicht der Anstandsprediger.
Exkurs Nr. 1: Die Rede vom Volk
Volk ist ein mehrdeutiger, ambivalenter, ja schillernder Begriff. Und er ist zweifelsohne politisch kontaminiert. Redet jemand von dem Volk, muss genau darauf geachtet werden, welche Bedeutung er diesem Wort im jeweils konkreten Kontext beimisst.
Als im Herbst des Jahres 1989 in Leipzig und andernorts Bürger der DDR auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk!“ skandierten, war damit mitnichten die ethnische oder gar national-patriotische Auslegung des Volksbegriffs gemeint. Das Wort vom Volk wurde einerseits gebraucht in seiner viel ursprünglicheren Bedeutung als gemeines, als einfaches Volk, als populus in Abgrenzung zur Machtelite des SED-Staates, aber auch als Staatsvolk, von dem die Parteiführung und ihre verschiedenen Machtorgane (Justiz, Polizei, Armee, Staatssicherheit usf.) zwar jahrzehntelang für sich in Anspruch genommen hatten, es angemessen zu vertreten, etwa in der Volkskammer oder beim Volkseigentum, von der sich diese Bürger aber eben in diesem Geltungsanspruch des Staates als Staat des Volkes zunehmend verraten fühlten. Im „Wir sind das Volk!“ wurde also ein unzweifelhaft politischer Volksbegriff verwendet, der zunächst keinerlei Deutungsbezug zu nationalistischen, völkischen oder gar rassistischen Interpretationen zuließ. Die Masse der Demonstranten des 1989er Oktobers war eines sicherlich nicht: Nationalisten.
Dieser Eindruck und diese Gewissheit sollten sich bald ändern, als nach der Grenzöffnung am 9. November aus dem „Wir sind das Volk!“ unversehens „Wir sind ein Volk!“ wurde, und so die anfangs noch innenpolitische Perspektive (Politik- und Machtwechsel) in den Hintergrund trat und unversehens die nationale Frage der Deutschen Einheit in den Vordergrund rückte. Das war i.Ü. auch der Moment, an dem ich mich aus dem Kreis der Demonstrierenden zurück zog, denn mit dem Wandel der politischen Zielsetzung ging auch eine zunehmende Ruppigkeit, ja Aggressivität in der Artikulation einher. Der Ruf „Wir sind ein Volk!“ bekam bereits damals eine nationalistische, mindestens aber national-patriotische Note; und er war exkludierend: Als jemand, der auf den Demonstrationen und Kundgebungen dazu nicht jubelnd applaudierte, sondern eher nachdenklich dreinblickte, bekam ich böse Blicke zu spüren und ausgrenzende Zurufe zu hören, die hier zu zitieren mir unpassend scheint.
Wenn bei PEGIDA und ihren Ablegern sowie bei AfD-Kundgebungen im Osten wieder „Wir sind das Volk!“ gerufen wird, dann ist dies m.E. ein bewusster, zumindest aber fahrlässiger Missbrauch der ursprünglichen ´89er Bedeutung des Satzes. In wohlwollender Interpretation könnte man den Missbrauch noch auf eine ähnliche Gefühlslage der Demonstranten als einfacher, sich von der Machtelite (der Philosoph Bernhard Taureck bezeichnete diese in einem Radio-Essay von 2011 als Geld-Macht-Medien-Verbund) verraten geglaubter Teil der Bevölkerung, reduzieren. Durch die offen fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen der Redner, durch die Plakate und Sprechchöre, durch die zur Schau gestellten Insignien aber wird daraus offener völkischer Nationalismus, die Rede vom Volk entlarvt sich als Behauptung einer biologistisch-genealogischen Blut- und Schicksalsgemeinschaft der Deutschen im angeblichen Kampf gegen das Fremde schlechthin.

Will der wohlmeinende Einheimische eine angemessen liberale Haltung zum Fremden finden, die Ausgrenzung oder Stigmatisierung vermeidet, plädiert er für dessen Integration, was im Grunde genommen nichts grundsätzlich anderes bedeutet als Assimilation, nicht in die vaterländische, aber doch in die Werte- und Handlungsgemeinschaft. Die Fremden sollen nun nicht mehr werden wie wir, sie sollen nur noch so handeln wie wir. Der aufgeklärte Liberale erwartet nicht das Bekenntnis zur Bergpredigt; an deren Stelle tritt der kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“, und gleichermaßen das Bekenntnis zum je geltenden Recht. Bauman stellt gleichwohl fest, dass das Streben nach Erfüllung der liberalen Integrationserwartung den Fremden nicht wirklich weiter bringt. „Determinanten der «Fremdheit»“, schreibt Bauman, „sind in diesen Fällen eminent geschmeidig; von Menschen gemacht, können sie im Prinzip von Menschen annulliert werden... Das Annullieren verlangt lediglich einen Orientierungswechsel, eine Verlagerung an kommunaler Bindung, eine ehrliche Anstrengung der Selbstkultivierung und Selbstverfeinerung oder religiöse Konversion – alles Dinge, die offensichtlich in der Macht des einzelnen liegen.“ Häufig geben sich Fremde „alle Mühe, alles, was sie von den rechtmäßigen Mitgliedern einer einheimischen Gesellschaft unterscheidet, zu unterdrücken – und zu hoffen, dass eine devote Nachahmung einheimischer Bräuche sie von den Gastgebern ununterscheidbar macht und eben dadurch ihre Reklassifikation als Insider garantiert, die ein Recht auf Behandlung haben, die Freunde gewohnheitsmäßig erfahren. Je angestrengter sie sich bemühen, desto schneller scheint die Ziellinie zurückzuweichen. Wenn sie endlich in Reichweite zu sein scheint, wird unter dem liberalen Mantel der Dolch des Rassismus hervorgezogen. Die Spielregeln werden ohne große Vorwarnung geändert. Oder eher, erst jetzt entdecken die Fremden, die sich ernsthaft um «Selbstverfeinerung» bemühen, daß das, was sie fälschlicherweise für ein Spiel der Selbstemanzipation gehalten haben, in Wirklichkeit ein Spiel der Beherrschung ist.“ Das ist wohl die Erfahrung, die die jungen Angehörigen der dritten Generation Deutscher mit Migrationshintergrund seit einigen Jahren machen. Hier geboren und aufgewachsen im Glauben an die völlige Gleichberechtigung mit den (welch furchtbarer Ausdruck) Biodeutschen, müssen sie bald feststellen, dass sie für die Mehrheitsgesellschaft weiter die Fremden sind. Den meisten sieht man schon rein äußerlich die ethnische Differenz an; so sind sie Staatsbürger und gelten doch nicht als Deutsche. Aus der Perspektive der Mehrheit sind alle Fremden gleich – Türken, Araber, Neger. Sie werden beurteilt nicht nach den fähigsten Vertretern ihrer Gruppe, sondern nach den am wenigsten erfolgreichen. Das Urteil über Neu-Kölln wird anhand der Auskünfte Heinz Buschkowskys über notorisch kriminelle Jugendliche gefällt, die Polen galten lange Zeit als Autodiebe, die Asylsuchenden des Jahres 2015 sind vorwiegend junge Männer und deshalb notwendig potenzielle Vergewaltiger usf.

Nach Bauman ist das Projekt der Integration als kultureller Assimilation zum Scheitern verurteilt. Selbst für den wohlmeinenden Liberalen stellt sich die Fremdheit des Fremden irgendwann als soziales und kulturelles Phänomen dar. Statt plumper ethnischer Gründe werden soziale und kulturelle Ursachen für die Integrationsunfähigkeit des Fremden ausgemacht, wobei die Verantwortung dafür zu großen Teilen dem Fremden selbst zugewiesen wird: Er hatte ja alle Chancen, er hat sie aber nicht genutzt.

Nach dieser, für uns wohl doch eher deprimierenden, wiewohl nicht unbegründeten Erkenntnis (Du bleibst, was Du warst.) wechselt Zygmunt Bauman die Seite und analysiert die Ambivalenz des Fremden aus dessen Perspektive. Dazu Teil 2.


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