Freitag, 2. August 2013

Occupy Web!

Man kann gar nicht so viel fressen und saufen, wie man kotzen möchte.
Lange Zeit wollte ich den ganzen NSA-Bohei als das abtun, als was er mir erschien: als hys­terische Reaktion unwissender oder gespielt naiver Medienheinis, die lediglich ein leidlich aufregendes Thema fürs jährliche Sommerloch gefunden haben. Denn, was sollte auch schon so überraschend daran sein, dass Geheimdienste, ob nun NSA, BND oder FSB das tun, wofür sie erfunden wurden und immer noch von uns bezahlt werden – Informationen über mögliche Bedrohungen der nationalen Sicherheit sammeln und analysieren. Also sag­te ich mir: Lass die ruhig Paranoia spielen, ich lasse mich davon nicht beeinflussen und vereinnahmen, ertrage auch dies mit stoischer Ruhe und Besonnenheit. Doch seit gestern Abend sieht die Sache anders aus. Die Guardian-Veröffentlichung über XKeyscore hat alles gedreht.
Es mag albern klingen, aber ich fühle mich von meinem Staat getäuscht, betrogen, regelrecht ange­pisst. Seit über 10 Jahren arbeite ich nun in der IT-Sicherheit, erzähle den Leuten quasi als verlängerter Arm des Bundes in Gestalt des Bundesamtes für Sicherheit in der Informati­onstechnik (BSI), wie sie ihre Computer, Smartphones und Netze und ihre Internet-Kom­munikation sicherer machen können, wie sie sich vor Hackern, Schnüfflern, Phishern, In­nentätern und anderem bösen Gesocks schützen sollten, wie man Daten verschlüsselt und wie man verschlüsselt kommuniziert usw. usf. Doch seit gestern Abend ist das alles für´n Arsch. Natürlich war und bin ich nicht so naiv anzunehmen, dass es Sicherheit im Sinne von Null-Risiko geben könnte, im Gegenteil: Gern habe ich Bruce Schneiers Diktum „There is no such thing as security. There are risks and there are counter measures.“ zitiert, um klar zu machen, dass auch hier alles nur relativ ist. Nun habe ich gelernt, dass das im Fall des weltweiten Internetverkehrs Quatsch ist. Es gibt keine counter measures, jedenfalls keine unverfänglichen – die NSA sitzt am längeren Hebel, denn sie entscheidet, was suspekt ist.
Anders ausgedrückt: Es macht für mich schon einen gewaltigen Unterschied, ob eine Si­cherheitsbehörde aufgrund von Verdachtsmomenten den weltweiten Internet- oder Tele­fonverkehr durchsucht oder ob sie den weltweiten Internet- und Telefonverkehr nach Verdachtsmomenten durchsucht. Ersteres ist mehr oder weniger normale Ermittlungsar­beit, letzteres ist einfach nur paranoid. Die NSA ist paranoid. Und diese Paranoia ist, wenn man es nüchtern betrachtet, sogar irgendwie verständlich. Seit letzter Woche schaue ich mir die hervorragende Serie „Homeland“ von DVD an, in der es genau um diese Paranoia geht. Claire Danes spielt darin die CIA-Analytikerin Carrie Mathison, die bereits in der ersten Folge als Konsumentin von verschreibungspflichtigen Psychopharmaka dargestellt wird und ihre Verdächtigungen und den übermäßigen Ermittlungseifer damit begründet, dass solche Fehler wie 2001 nie wieder passieren dürfen. Hier wird in einer Person die ganze Problematik der US-amerikanischen Sicherheitspolitik bis hin zu den Drohneneinsätzen deutlich: Nie wieder 9/11. Nie wieder solche Fehler machen. Nie wieder etwas übersehen. Man kann vermuten, dass die amerikanischen Sicherheitsdienste von FBI bis NSA nach dem 9/11-Desaster von der Politik so eins in die Fresse bekommen haben, dass sich bei ihnen eine Versagensangst festgesetzt hat, die eben u.a. zu XKeyscore geführt hat. Auch Geheimdienste sind nur Behörden und unterliegen den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie andere bürokratische Gebilde, und dazu gehören eben auch geringe Risikoneigung und Rückversicherungsmentalität.
Mein Staat hat mich betrogen, weil er so tut, als habe er von all dem keinen blassen Schim­mer gehabt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Wenn unsere Polithanseln von Merkel bis Friedrich wirklich nichts gewusst haben, dann haben unsere Nachrichtendienste ein Ei­genleben geführt, das akut demokratiegefährdend ist. Wenn sie auch nur annähernd zu­verlässige Informationen hatten, dann kann man ihr Verhalten nur als zynisch bezeichnen. In jedem Fall ist zu konstatieren, dass staatliche Behörden der USA mit Rückendeckung der Politik geltendes nationalstaatliches Recht und damit auch Völkerrecht massiv bre­chen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das Eurohawk-Desaster in einem etwas ver­ständlicheren Licht: Wahrscheinlich haben die Leute bei Lockheed-Martin sich einen ge­grinst bei der Anforderung nach Luftraumzulassung für ihr Produkt. Eine Drohne ist schließlich ein militärisches Waffensystem und soll wohl nicht daheim zum Einsatz kommen. Wer braucht da eine Luftraumzulassung? Es wäre doch wohl extrem kontraproduktiv, wenn man im Einsatzgebiet noch Baupläne des guten Stücks verbreiten würde. Das Gerät soll von der feindlichen Luftabwehr ja gerade nicht er­kannt werden. Andererseits zeigt diese Überlegung, mit welch praxisfernen Bürokraten wir es in Teilen dieser Regierung zu tun haben. Das nur nebenbei.
Wenn nun Regierungsvertreter den Bürger auffordern, sich selbst zu schützen, dann ist auch das im Lichte von XKeyscore wenn nicht zynisch, so doch höchst absurd. Ich werde also aufgefordert, mich vor meinem Staat zu schützen. Na geht’s noch? Und selbst wenn ich dies tun und bspw. nur noch verschlüsselt mailen würde, geriete ich möglicherweise umgehend ins XKeyscore-Raster. Denn XKeyscore ist die Kombination von Vorratsdaten­speicherung und Rasterfahndung, wobei die Definitionshoheit über das Ras­ter bei der NSA und den anderen Geheimdiensten liegt, die sich dieses Programms bedie­nen. Wer Mail verschlüsselt, macht sich verdächtig, wer VPN-Tunnel betreibt ebenso.
Lächerlich machen sich auch jene, die mit dem Argument daher kommen, dass Microsoft, Google, Facebook, Twitter und sonstige Internet Serviceprovider ebenso massenhaft Daten sam­meln und auswerten und so jede Menge über uns wüssten. Aber es ist schon noch ein fei­ner Unterschied, ob derjenige, der etwas über mich weiß, dieses Wissen dazu nutzen kann, auf mich das staatliche Gewaltmonopol anzuwenden, mich auf Verdacht in eine dreckige Zelle zu stecken oder gar in ein folterfreundliches Land zu verfrachten, oder ob er seine Kenntnis über meine Kommunikations- und Konsumgewohnheiten lediglich dazu nutzt, mir ungebetene Angebote zu machen oder mir sonstwie auf die Nerven zu gehen.
Von Anfang an wollte ich mich nicht auf diese NSA-Paranoia einlassen, wollte Prism & Co. einfach ignorieren. Das ist nun so einfach nicht mehr durchzuhalten, denn ich fühle mich sehr persönlich betroffen. Doch man sollte nicht selbst in Paranoia verfallen, zumal all die­se wohlmeinenden Ratschläge, die gerade durch die einschlägigen Medien geistern nichts taugen, sondern im Zweifelsfall nur den Umsatz der Unternehmen steigern, die sich in den letzten paar Wochen seltsam still verhalten haben – Symantec, McAfee, Kaspersky, Cisco und wie sie alle heißen, die uns seit Jahren das große Sicherheitsversprechen verkaufen.
Was wir tun sollten, ist: Das Internet zuscheißen.
Installiert Mail-Roboter, die rund um die Uhr Mailserver mit sinnvollen, sinnlosen oder keyword-gespickten Nachrichten zuschütten!
Lasst Tag und Nacht Pornokanäle oder meinetwegen auch nur irgendwelche Bullshit-Videos streamen!
Schüttet Eure Facebook- und Googleplus-Accounts mit Terrabyte-Ladungen von Fotos und Videos zu!
Betreibt Twitter-Bots, die unablässig Nachrichten posten!
Wechselt täglich Eure sämtlichen Dropbox-, GoogleDrive- oder anderen Cloud-Inhalte!
Installiert Traffic-Generatoren, die einfach nur fette Pakete ins Netz pusten!
Lasst sie ersaufen in der Datenflut! Lasst Euch was einfallen! Aber versteckt Euch nicht!
Das Internet gehört uns. Wir haben haben es finanziert. Wir erfüllen es mit Leben.
Das Internet ist wahrlich kein freier Raum, aber es ist unser Raum. Wir bestimmen, was es für uns ist. Wir sind 99%.



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