Dienstag, 11. September 2012

Das heilige Profane

In einem früheren Blog-Eintrag1 hatte ich mich mit einem kurzen Text aus Giorgio Agambens Sammelbändchen „Profanierungen“ befasst. Ich möchte darauf zurück­kommen, das Thema nun aber weiträumiger zu fassen versuchen.

Profanierung meint Entweihung, Entheiligung, Verweltlichung des Sakralen.

Das Christentum (wie auch das Judentum) anerkennt in erster Näherung nur Gott al­lein und die, die an ihn glauben, als heilig: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig.“ (Lev 19,2) Dass darüber hinaus auch Orte, Gebäude oder Bücher als heilig angesehen und verehrt werden, dürfte dem Wunsch geschuldet sein, dass der Ort der Huldigung des Heiligen selbst heilig zu sein und die Schrift als Verkündigung von Gottes Wort ebenso seine Heiligkeit zu übernehmen habe. Auch Gegenständen, wie dem Kreuz, kann Heiligkeit eignen. Heiligkeit in diesem erweiterten Sinn bedeutet dann Teilhabe von Orten und Dingen an Gottes Heil. Damit zieht, nebenbei gesagt, ein Hauch von Pantheismus in das monotheistische Kirchengebäude. Allerdings sind solcherart Verheiligungen den anderen monotheistischen Religionen ebenso wenig fremd. Man denke nur an den Umgang der Juden mit der Tora oder an die Zeremoni­en der Moslems während des Haddsch in Mekka. Daneben genießen auch religiöse Rituale, Prozeduren oder Bräuche den Status der Heiligkeit und werden als Sakra­mente bezeichnet (Taufe, Ehe usw.). Heiligkeit ist mithin Ausdruck einer symboli­schen Beziehung zum Göttlichen. Heilig ist, was zwischen Gott und den Menschen zu vermitteln hilft.
Im engeren Sinne sind, wie ich glaube, nur Gott selbst, seine „Beamten“2, die Engel nämlich, und seine Gläubigen wirklich heilig. Auf Erden gehören nur die Gläubigen zur Gemeinschaft der Heiligen, nur sie sind Volk Gottes. Davon zeugt wohl auch das Bilderverbot in Ex 20,4. Denn jeder Gegenstand und jedes Bild, denen Heiligkeit zu­gesprochen wird, kann selbst zum Objekt der Vergöttlichung mutieren, so dass die Gefahr eines Verstoßes gegen das oberste Gebot „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ (Ex 20,3) bestünde. So verstanden trägt das monotheistische Heilig­keitsverständnis den Keim der Profanierung von Anfang an in sich, denn anders als die Polytheismen erlaubt es keinen Wechsel der Heiligkeitssubjekte zu anderen Hei­ligkeitsobjekten, sondern nur die komplette Aufgabe der Heiligkeit selbst, die Profa­nierung also. Andere Heiligkeitsobjekte gibt es schlichtweg nicht. Noch einmal: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ (Ex 20,3) Und stärker noch: „Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt.“ (Sure 59,22) Hier findet der von Jan Assmann geprägte Begriff der Mosaischen Unterscheidung3 seinen tieferen Sinn: Die definitorische Macht des Gebots vom alleinigen Gott macht den, der sich von diesem Gott abwendet, nicht zum Anders- sondern zum Ungläubigen. Sie entzieht ihm die Bürgerrechte in Gottes Volk, übergibt ihn der Vogelfreiheit und macht ihn so zum Home Sacer4. Die Abkehr des Einzelnen vom konkreten Gott der Gemeinschaft ist somit Abkehr vom Heiligen schlechthin. Und da es per definitionem außerhalb der Gemeinschaft der Heiligen keine Heiligkeit gibt, kann der Abtrünnige Heil nur in sich selbst finden. Der Homo Sacer lebt, so lange er noch zu leben hat, in selbstermächtigter Heiligkeit, die nur aus unheiliger Selbstermächtigung zu gewinnen ist.
Indem er aber das ihm von der Gemeinschaft offerierte Geschenk der Heiligkeit qua Teilhabe ablehnt, gerät er unweigerlich in den Ruch, gemeinschaftlichen Symbolen und damit gemeinschaftlichen Konventionen grundsätzlich ablehnend gegenüber zu stehen. Die Gemeinschaft konkludiert aus der Abkehr vom einen Gott die Abkehr von der Gemeinschaft selbst, denn wenn dem Abtrünnigen einmal etwas nicht heilig ist, dann besteht Anlass zur begründeten Vermutung, dass ihm nichts mehr heilig sein könnte – anything goes, und so bedeutet in den Augen der Gemeinschaft Profanie­rung nicht nur Entsakralisierung sondern vielmehr Entsozialisierung. Im Kern ist Profanierung weniger Säkularisierung als Individualisierung, und das sich selbst profanierende Individuum trägt den Spaltpilz der sozialen Zersetzung in die Gemein­schaft. Und ist es nicht auch so? Wer sich nicht zu Gott bekennt, bekennt sich entwe­der zu gar nichts oder, was noch schlimmer ist, zu Abgöttern, von denen es, weil men­schengemacht, unzählige gibt. Er macht sich damit selbst zum Demiurgen, zum Schöpfer einer gottlosen Heiligkeit, die heilig aber nur in dem individuellen Bezug des Profanierenden zu seinen selbstgemachten Abgöttern ist.
Die europäische Aufklärung ist ein solches Projekt der Profanierung des gemein­schaftlichen Ganzen. Ein Ziel der Aufklärung war die Befreiung des Individuums, um es zu rational begründeter Bestimmung über das eigene Leben zu ertüchtigen, zur Selbstermächtigung eben. Politisch bewirkte das Projekt Aufklärung nicht nur die De­mokratisierung, sondern auch die Säkularisierung der Gesellschaften. Das Endstadi­um dieser Entwicklung, in das wir wohl spätestens mit dem faktischen Sieg des Wes­tens über die staatlich organisierte kommunistische Ersatzreligion eingetreten sind, zeichnet sich nun durch eine alles erfassende und alles durchdringende Profa­nierung aus. Wer würde ernsthaft behaupten, dem postmodernen, partikularisierten, flexiblen Menschen5, dem Idealmenschen der Marketingstrategen, der Personalbera­ter, der Wahlkampfmanager6 wäre auch noch irgendetwas wirklich heilig? Individua­lisierung und Profanierung sind zwei Seiten einer Medaille, das eine ist ohne das an­dere nicht zu haben. Und wenn hier und da über Relativismus und Werteverfall la­mentiert wird, wobei die Protagonisten dieser Lamenti von den meisten Beobachtern nur müde belächelt werden, dann zeigt das nur, wie weit fortgeschritten und irreversibel der Profanierungsprozess inzwischen ist.
Doch kommen wir wirklich ohne Heiliges aus? Ich meine: Nein. Und Agamben sieht das in seinen kurzen Texten wohl ebenso. Ihm geht es um die Rückgewinnung des Heiligen aus dem Profanen. Auf den ersten Blick scheint dies widersprüchlich, doch ist es aus Agambens Sicht möglich, denn alles Profane war vormals Heiliges und trägt immer noch einen heiligen Wesenskern in sich. Diesen gilt es auszugra­ben und wieder nutzbar zu machen, um statt des ursprünglich damit assoziierten ge­meinschaftlichen ein individuelles Heil zu gewinnen. Insofern für Agamben die Figur des Homo Sacer paradigmatisch ist für den Zustand des Individuums im 20. /21. Jahrhun­dert, weist er ihm die Aufgabe zu, seine, gleich ob gewollte oder ungewollte Entsozia­lisierung zur heilenden Selbstermächtigung zu nutzen. Wenn wir das Heilige brau­chen, ist die Rückgewinnung der Heiligkeit aus dem Alltäglichen ein individueller Akt der Emanzipation von der Herrschaft des Gewöhnlichen im globalen Mainstream des anything goes.
2 Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Suhrkamp 2010
3 Jan Assmann, Moses der Ägypter. Fischer 2011
4 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Suhrkamp 2002
5 Richard Sennet, Der flexible Mensch. Bloomsbury 2000
6 ders. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Bloomsbury 2006

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