Sonntag, 1. Juli 2012

Duales System


Anlässlich des laufenden Prozesses gegen den Oslo-Attentäter und Utøya-Massenmörder Anders Breivik kommt ein bekanntes Thema wieder hoch, das am Kreuzungspunkt von Neurophysiologie, Psychologie, Moral- und Geistesphilosophie, Rechtsphilosophie und nicht zuletzt praktischer Rechtsprechung angesiedelt ist. Es ist das alte Leib-Seele-Problem bzw. die Frage danach, was eigentlich ein bewusstes Ich ausmacht und in welchem Verhältnis Geist und Gehirn zueinander stehen. Bezogen auf den Breivik-Prozess geht es natürlich um die Frage der Schuldfähigkeit und damit auch um den freien Willen. In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „der Freitag“[1] beleuchtet Redakteurin Kathrin Zinkant die Lage ausgehend vom berühmten Libet-Experiment[2] und weiteren sachdienlichen Informationen aus den Neurowissenschaften.
Es geht nun keineswegs darum, dass ich vielleicht mit ihrer Darstellung nicht einverstanden wäre, sondern vielmehr um eine der verbreiteten Prämissen der ganzen Diskussion, die sich auch in dem genannten Beitrag wieder findet. Mir scheint nämlich, dass der alltagspsychologische und eigentlich auf Descartes zurück gehende Dualismus von Geist und Körper, der sich vor allem darin zeigt, dass überhaupt zwischen Ich und Gehirn unterschieden wird, offenbar noch immer nicht überwunden ist. Warum, so frage ich mich, fällt es so schwer zu akzeptieren, dass es in uns nichts aber auch gar nichts gibt, das unsere Persönlichkeit konstituieren, unsere Empfindungen erzeugen, unsere Gedanken produzieren und sowohl Bewusstes als auch Unbewusstes hervorbringen könnte, als nur unser Gehirn? Wieso soll es eine Einschränkung des freien Willens bedeuten, wenn es kein imaginärer, nicht fass- und nicht vorstellbarer Geist ist, der meine Entscheidungen trifft und meine Handlungen bestimmt, sondern einfach nur das komplexe Organ in meinem Kopf? Was ist so furchtbar schrecklich an der Vorstellung: Mein Gehirn ist mein Ich?
Es scheint, als wäre es besonders für die Juristen und die Moralphilosophen ein größeres Problem anzuerkennen, dass ihr Begriff des freien Willens, den ja die Anerkennung der Schuldfähigkeit im Strafprozess voraussetzt, lediglich ein abstraktes Konstrukt ist, bei dem es mitnichten darum geht, den Menschen in eine Beziehung zu seinem konkreten Körper nebst aller seiner Organe zu setzen, sondern in Beziehung zu seinen Handlungen und deren möglichen Konsequenzen. Womöglich hat dies ja mit der einzigartigen Sonderstellung des Denkens als menschlicher Tätigkeit zu tun, die sich in seiner Reflexivität bzw. Selbstbezüglichkeit ausdrückt, wobei noch darüber nachzudenken wäre, ob diese Reflexivität nicht lediglich ein Sprachphänomen ist, das daher rührt, dass das Denken zu den Tätigkeiten gerechnet wird, ohne eine Handlung im eigentlichen Sinne zu sein. Handlungen sind nicht reflexiv, sie sind stets auf etwas anderes gerichtet. Selbst Empfindungen oder Gefühle oder Erinnerungen sind nicht reflexiv, oder ist es etwa jemals gelungen, ein Empfinden zu empfinden oder ein Fühlen zu fühlen oder ein Erinnern zu erinnern?  Nur das Denken kann auch sich selbst zum Gegenstand haben: Ich kann zwar nicht denken, dass ich denke, aber ich kann Gedanken und auch das Denken selbst zum Gegenstand meines Denkens machen.
Das Denken ist also eine Tätigkeit höherer Ordnung, wie der Philosoph sagen würde. Dumm nur, dass der Philosoph spätestens seit Wittgenstein weiß, dass nicht das Denken als solches Gegenstand des Denkens ist, vielmehr sind es Sprachgebilde – Wörter, Sätze, Begriffe usw. Denken spielt sich in Sprache ab. Außerhalb der Sprachform gibt es keine Gedanken. Es gibt auch kein vorsprachliches Denken: Bewusstseinstätigkeit außerhalb der Sprachform hat allenfalls Bilder, Töne, Vorstellungen zum Inhalt. Sobald ich versuche, über Bilder, Töne oder Empfindungen zu denken, bediene ich mich der Sprache, um meine Eindrücke überhaupt erst denkbar zu machen. Das aber bedeutet, es gibt kein Bewusstsein und mithin auch keinen freien Willen außerhalb der Sprache. Siegmund Freud, der Entdecker des Unbewussten, hatte seine psychoanalytische Methode auf der Erkenntnis aufgebaut, dass Unbewusstes erst durch Versprachlichung bewusst werden kann, gewissermaßen zur Sprache kommen muss, und so das Sprechen als Therapieform etabliert.
Der freie Wille, bezogen auf eine konkrete Handlung, setzt voraus, dass das Subjekt des Handelns fähig ist, sich Gedanken über die beabsichtigte Handlung und deren Konsequenzen zu machen, sein potenzielles Handeln antizipierend zu reflektieren, was eben nur in Sprache geschehen kann. Bezogen auf die Schuldfähigkeit kann die Frage also nur lauten, inwiefern die konkrete Handlung vom handelnden Subjekt sprachlich-gedanklich reflektiert werden konnte. Entscheidend ist dabei aber nicht, wie Handlungsabsichten im Hirn entstehen oder in welcher neurophysiologischen Beziehung der Geist zum Gehirn steht. Das sind für sich genommen hoch interessante und hoch aktuelle naturwissenschaftliche Fragestellungen, die m.E. jedoch in keiner Beziehung zum freien Willen stehen. Anders gesagt: Moralisches Handeln kann und sollte nicht reduktionistisch naturalisiert werden.
Es bleibt die Frage, wieso der cartesianische Dualismus offenbar so tief in der Alltagspsychologie verwurzelt ist, dass er z.T. immer noch bestimmend für die Bewertung neurophysiologischer Erkenntnisse zum Verhältnis von Geist und Körper ist. Es mag daran liegen, dass er unseren Intuitionen und vor allem unserer Erfahrung der Selbstreflexion eher entspricht als etwa die sprachlich komplexen Denkgebilde eines Martin Heidegger, der nicht das Ich ins Zentrum stellte, sondern die (körperliche) Welt mit dem Ich mittendrin, ohne zwischen den beiden, Welt und Ich, einen cartesianischen Gegensatz zu konstruieren. Auch spielt wohl unsere christliche Denktradition eine Rolle, die, obwohl in der Bibel an keiner Stelle davon die Rede ist, getreu ihrer scholastisch-aristotelischen Traditionslinie zwischen vergänglichem Körper und unsterblicher Seele unterscheidet. Vielleicht aber ist es auch einfach nur die tiefe Sehnsucht nach Unvergänglichkeit im Angesicht des Todes.

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